„ICH WILL NICHT STERBEN, BEVOR ICH RICHTIG GELEBT HABE!
ICH MÖCHTE IN MEINEM GANZEN LEBEN NIE WIEDER
TRÄUMEN MÜSSEN!“
Seit dem Tod ihrer Eltern lebt Julia bei ihrer verwitweten Grandma Penelope – ein Dreamteam, ja, aber nicht nur im eigentlichen Sinn, sondern auch in einer Tragweite, die beide nicht einmal erahnen.
Erste Anzeichen dafür, dass Julias Träume den Rahmen des Gewöhnlichen sprengen, gab es bereits, doch nachdem Mit Jared jemand aus ihren Träumen leibhaftig in ihr Leben
tritt, ist nichts mehr wie zuvor: Sie soll die Verantwortung für sein Überleben und das seiner Geschwister Preston und Laverna übernehmen?! Eine Aufgabe, die nicht nur über den menschlichen Verstand
hinausginge, sondern auch weit über alles, wofür sie jemals Verantwortung hätte tragen wollen!
Wie lässt sich eine Gräueltat ausradieren, die eine Vorfahrin vor
vielen Generationen verübt hat?
***
ISBN 978-3-7597-8488-9
556 Seiten, Taschenbuch;
Format: 12 x 19cm
Auch als E-Book erhältlich
LESEPROBE
Gibt es prophetische Träume? Können sie uns sagen, was auf uns zukommt? Reichen sie überhaupt nahe an die Realität heran, zeigen sie uns unter Umständen sogar, was wir tun sollten, damit „Träume“ in Erfüllung gehen?
An Ersteres glaubte ich nicht und alles Übrige ... Nein. Nach meiner Erfahrung waren nächtliche Träume, in denen man sich schlafend irgendwo außerhalb der Realität bewegt, allenfalls Ausdruck unserer Wünsche. Geheimer Wünsche vielleicht. Spiegelbild unserer Ängste womöglich, klar, aber es sind und bleiben immer nur Träume!
Oder?
EINS
„Granny? Ich bin wieder da!“
Schnaufend ließ ich die beiden prallgefüllten Einkaufstüten auf den Küchentisch fallen und horchte. „Granny?“
„Im Garten!“, kam von draußen die gedämpfte, etwas verspätete Antwort.
Seufzend entledigte ich mich jetzt auch meines Schlüsselbundes und öffnete die Hintertür.
„Ach Granny, das sollst du doch mir überlassen! Ich sagte doch, dass ich das Unkraut morgen rupfen werde. Komm, ich helf’ dir hoch.“
Sie trug ihre sicher schon jahrzehntealte Jeanslatzhose über einer gelbrot karierten Bluse und mehrere schmutzige Streifen zogen sich über ihre Stirn und linke Gesichtshälfte. Zusammen mit ihren
jetzt unwillig funkelnden Augen und roten Wangen ergab ihr Anblick mal wieder das recht bunte Bild einer alten Lady, die grundsätzlich tat, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte – allen Widrigkeiten
und Widerständen zum Trotz.
„Versuchs nicht mal! Ich bin alt, aber so verrostet nun doch nicht!“, wehrte sie sich und erhob sich ein wenig mühsam. „Wenn ich mich nicht wenigstens mit Gartenarbeit ein bisschen in Form halten
darf, steckt Chester mir irgendwann ganz sicher keine Gratisfrüchtchen mehr in die Tasche. Ich weiß doch, dass er voll auf meinen Hintern abfährt.“
Ich verbarg mein Grinsen nicht. Chester Sparks war der Inhaber des kleinen Lebensmittelladens am Rand von Parishville, der höchstpersönlich schon seit Jahren regelmäßig mit seinem Lieferwagen
vorbeikam, um bestellte Ware zu liefern.
In der Tat flirtete er jedes Mal recht unverblümt mit meiner Grandma, selbst wenn wir gemeinsam im Laden einkauften. Mehr als einmal landeten dann tatsächlich appetitliche Erdbeeren, saftige
Pfirsiche oder hin und wieder sogar etwas Exotischeres wie Mangos oder ein paar Physalis auf unseren Einkäufen. Und das war nicht selten, denn nur die monatlichen Großeinkäufe wie den heutigen, der
die schweren Dinge beinhaltete, erledigte ich alleine mit dem Auto.
Ich jobbte bereits seit ein paar Jahren bei ihm und gelegentlich drückte er mir schon mal einen ganzen Korb mit Obst oder Gemüse für Granny in die Hände, wenn ich Feierabend hatte.
Grandma hob vielsagend lächelnd eine Augenbraue und klopfte sich demonstrativ lässig die lose Erde erst von ihren Knien, dann, begleitet von leichten Hüftschwüngen, von ihrem Hinterteil.
„Granny! Also wirklich!“, schüttelte ich den Kopf.
„Was?“, fragte sie betont unschuldig, zog die Gartenhandschuhe aus und fuhr mit gespreizten Fingern durch ihre schulterlangen weißen Haare. Endgültig weiß waren sie geworden, nachdem sie, selbst
Witwe, mit meiner Mom und meinem Dad ihre einzige Tochter samt Schwiegersohn verloren hatte – und mich, gerade mal elf Jahre alt, zu sich holte.
„Chester Sparks!“, wiederholte ich und verzog das Gesicht. „Wenn dich jemand hört!“
„Hmpf! Er ist nicht mein Typ und nur du und die Gänseblümchen können mich hier hören“, erwiderte sie gelassen und begann damit, die herumliegenden Gartengeräte einzusammeln. Ihre zierliche Gestalt
bewegte sich dabei durchaus noch mit Anmut und nur wenige wussten, wie heftig ihre Gelenke an manchen Tagen schmerzten. „Mich interessieren nur die kostenlosen Zugaben“, grinste sie breit und jetzt
lag ein freches Funkeln in ihren grünen Augen.
„Granny!“
„Oh, Julia, ich rede von Dingen wie seinen Äpfeln! Sein Obst ist das einzig Knackige an ihm, ich würde nie auf seine Rendezvousangebote eingehen!“
Mein Unterkiefer fiel herunter und beinahe auch der schwere Eimer mit dem Unkraut, den ich jetzt rasch auf den Komposthaufen leerte.
„Er will dich daten?“, riss ich die Augen auf. Noch etwas, das mir offenbar entgangen war! Andererseits sprach er so etwas vermutlich nicht in meiner Gegenwart an.
„Na hör mal! Ich sehe für meine siebzig Jahre schließlich noch exorbitant gut aus, höchstens wie neunundsechzig! Und ich bin nicht scheintot! Mein Problem ist nur, dass es in der ganzen Gegend hier
offenbar keinen reizvollen, intelligenten und faszinierenden Mann gibt, der sich für mich erwärmt und gleichzeitig mit mir mithalten kann.
Deshalb übe ich ein bisschen bei Chester, damit ich nicht alles vergesse – bis mir einer, der mir zusagt, schöne Augen macht. Und im Übrigen weiß er, dass ich nichts von ihm will. Ich erinnere ihn
jedes Mal daran, wenn er wieder mit sowas anfängt. Wenn er trotzdem meint, mir eine Wassermelone oder einen Blumenkohl in die Hand drücken zu müssen, ist das nicht mein Problem.
Übrigens: Ungeheuer romantisch, findest du nicht? Ich erinnere mich nicht, dass dein Grandpa mir jemals einen Blumenkohl geschenkt hat. Ein echtes Versäumnis seinerseits! Wenn ich sein Grab wieder
besuche, sollte ich das mal erwähnen …
So, wie wäre es jetzt mit einer Tasse Kaffee? Die Einkäufe können wir auch anschließend noch forträumen.“
Geduldig wartete ich, bis sie das Schloss vor den Riegel des kleinen, rückwärtig angebauten Gerätehäuschens gelegt und zugesperrt hatte, dann hakte ich sie unter und überhörte das unwillige
Zungenschnalzen.
„Du machst dich ganz schmutzig, ich bin voller Erde“, wehrte sie ab.
„Und ich bin sowieso total verschwitzt und muss duschen. Aber die Idee mit dem Kaffee ist nicht übel, ich hole nur rasch die beiden anderen Tüten und die Getränke rein.“
Seufzend rieb sie sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Okay, diese Geste kannte ich schon. Jetzt kam sicher wieder irgendeine Bemerkung über irgendetwas, das ihr Sorge bereitete. Und
zurzeit war das wohl ausschließlich ich.
„Tu das. … Julia, ich mache mir Gedanken um dich! Ich habe nichts gesagt, aber du hast auch heute wieder keine Post erhalten. Wie soll es weitergehen, hm?“
Sie hatte die Tür schon zugeschoben und damit begonnen, sich in dem riesigen Spülbecken mit Seife und Nagelbürste die schmalen Hände zu schrubben, was deren Haut rasch rot werden ließ.
Das befürchtete Thema! Ich war mal wieder nicht schnell genug verschwunden! Den Schlüsselbund in der Hand blieb ich in der Küchentür stehen, warf einen Blick in ihre Richtung und ließ ihn betont
durch die recht altmodische Küche schweifen, als sie ihren Kopf zu mir herumdrehte.
„Ganz einfach: Ich bleibe bei dir! Jemand muss sich doch um dich kümmern, sonst kommst du am Ende doch noch auf den Gedanken, was mit Chester anzufangen. Und das muss verhindert werden, eure Kinder
kämen kahlköpfig zur Welt und hätten eine Zahnlücke“, grinste ich und strich mit der anderen Hand meine langen roten Haare zurück.
Das Handtuch in der Hand drehte sie sich vollends zu mir herum und seufzte erneut.
„Ich meine es ernst. Eine alte Frau ist kein Umgang für ein so junges Mädchen wie dich und ich komme sehr gut alleine zurecht. Du musst einen Beruf erlernen oder auf ein College gehen. Auf eine Uni,
unter Menschen deines Alters!“
„Junge Frau!“, korrigierte ich sofort. „Zudem bist du noch nicht alt. Und sag mir nicht, dass du kein Umgang für mich bist, du bist meine Granny!“, schnaubte ich.
Sie überging meinen Einwand.
„Es gibt einen Grund, weshalb du bis heute nichts gehört hast: Du stehst auf keiner Liste. Weil du nicht eine einzige Bewerbung an die Universitäten und Colleges ausgefüllt und weggeschickt
hast!“
Ich schluckte die Worte, die ich noch hatte hinzufügen wollen, herunter, als sie mich mit dieser Bemerkung unterbrach.
„Woher weißt du das?“
Sie schloss die Augen und ihre Miene spiegelte ihre Bestürzung.
„Du wusstest es nicht“, erkannte ich zu spät.
„Richtig, ich habe geraten. Aber ich kenne dich. Du bist mir viel zu ähnlich!“, setzte sie besorgt hinzu. „Doch die Zeiten haben sich geändert, du musst einmal für dich selbst sorgen, Julia! Willst
du dich dein Leben lang mit kleinen Jobs über Wasser halten?“
Ich holte langsam und tief Luft.
„Das Letzte, was ich will, ist, dir Kummer zu bereiten, Granny! Aber ich bin nun mal nicht der Typ, der noch länger zur Schule gehen oder sogar studieren will. Ja, mein Problem ist, dass ich noch
nicht weiß, wohin die Reise geht. Aber ich weiß genau, dass ich es irgendwann wissen werde.
Okay, ich weiß auch, wie sich das jetzt anhört, aber … Ich werde es irgendwann wissen! Und bis dahin weiß ich, was ich nicht will. Ich möchte bei dir bleiben und für dich sorgen. Was ist so schlimm
daran? Nächstes Jahr denke ich vielleicht schon vollkommen anders darüber!“
Ihr Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur besorgter – was mich veranlasste, meinen letzten, größten und gleichzeitig gemeinsten Trumpf auszuspielen:
„Ich hab’ doch nur noch dich. Schick mich nicht weg!“
Sie warf das Handtuch mit einem unachtsamen Schwung geradewegs an der Spüle vorbei auf den Boden, kam auf mich zu und zog mich in ihre Umarmung.
„Das Letzte, was ich möchte, ist, dich von hier fortzuschicken! Wie kommst du nur auf diesen Gedanken? Du bist meine Enkelin, die Tochter meiner Tochter …
Aber es ist falsch, dass du dich derart an mich klammerst. In deinem Alter sollte man in die Welt hinausgehen und sie verändern, nicht hier draußen festhängen, wo außer ein paar Eichhörnchen und
zahnlückigen Obst- und Gemüselieferanten kaum einmal jemand vorbeikommt.“
Das traf nur zum Teil zu und das wusste sie. Klar, dieses Haus war eines von nur dreien, die weit abseits der nächsten Wohnsiedlung standen. Früher einmal hatte das dazugehörige riesige Grundstück
zur Hälfte aus Feldern und Wald bestanden, heute war da nur noch Wald. Es verschwand zudem von der Straße aus gesehen hinter den Bäumen, aber innerhalb von wenigen Minuten war man von hier aus mit
dem Wagen schon auf dem Highway und innerhalb von zehn Minuten in Parishville. Jedenfalls wenn man sich ein wenig beeilte.
„Ich kann mich ja mal umhören, ob ich irgendwo einen festen Job bekomme“, murmelte ich jedoch nur.
Wieder schnalzte sie mit der Zunge, dann schob sie mich ein Stück von sich fort und umklammerte mit erstaunlich kräftigen Händen meine Oberarme.
„Darum geht es doch nicht! Ich habe schon so oft versucht, dir klarzumachen, dass du keinen Cent zu unserem Unterhalt dazuverdienen musst. Ich habe mein Auskommen und kann es alleine gar nicht
aufbrauchen. Und wenn ich mal nicht mehr bin, gehört das alles hier dir. Doch das ist nicht genug, denn …“
„Ich weiß“, unterbrach ich sie rasch, stockte und fügte dann an: „Ich werde darüber nachdenken, okay? Aber es sind eben mal drei Wochen seit meinem Abschluss vergangen …“
Drei Wochen. Und die Wochen und Monate davor, in denen ich ebenso wenig Entschlussfreudigkeit an den Tag gelegt hatte. Dabei standen jedem nach der Highschool in Parishville genügend Möglichkeiten
offen.
Grannys raue, vom Wasser noch etwas kühle Hand strich sanft über meine Wange.
„Liebes?“
„Hm?“ Hatte sie etwas gesagt, das mir entgangen war? Es schien so, denn jetzt schüttelte sie den Kopf.
„Wo bist du nur immer? Wenn du dich nicht hier vergräbst, dann scheinst du mir so oft geistesabwesend oder verträumt.“
Einen Moment lang sah sie so aus, als ob sie noch etwas hinzufügen würde, aber dann atmete sie wieder aus und lächelte sanft. Ein Lächeln, das die Sorge in ihren Augen nicht im Geringsten
milderte.
„Na schön, lassen wir das. Aber versprich mir, ernsthaft darüber nachzudenken. Irgendwo gibt es den richtigen Platz für dich. Ich lebe nicht ewig und möchte noch erleben, dass du ihn findest.
So, und jetzt zum Kaffee … Los, los, hol mal den Rest herein, ich decke in der Zeit den Tisch“, wedelte sie mit der Hand und wandte sich kurzentschlossen ab.
Verträumt! Wie dicht sie damit an der Wahrheit war!
Heimlich aufatmend und froh über ihr Einlenken lief ich nach draußen und wuchtete nacheinander die restlichen Einkäufe aus dem Kofferraum. Das schwungvolle Zuschlagen der Heckklappe ließ deren
Scharniere ein weiteres Mal gequält quietschen und ich verzog den Mund. Unser Landcruiser war in die Jahre gekommen, doch noch hielt und fuhr er. Noch und hoffentlich auch noch eine ganze
Weile!
Grandma war noch damit beschäftigt, die Kaffeemaschine zu befüllen. Um ihr keine Gelegenheit zu geben, das Thema von vorhin erneut anzuschneiden, lief ich möglichst geschäftig hin und her, um die
Einkäufe zu verstauen. Wieder hatte ich nur einen Aufschub herausgeholt, doch den würde ich nutzen, so lange er anhielt.
Ich unterbrach mein Tun daher erst, als sie sich mit einem zufriedenen Aufseufzen auf ihren Stuhl am Kopfende des alten, stets blank polierten Tisches fallen ließ und die beiden dort deponierten
Tüten zur Seite schob.
„Also, was gibt es Neues? Beim nächsten Mal fahre ich wieder mit. Ich sollte ohnehin mal wieder zum Friseur gehen, da hört man wenigstens den neuesten Klatsch und Tratsch“, meinte sie und schob mir
den Teller mit den letzten selbstgebackenen Brownies zu.
„Neues?“, echote ich, wusch mir rasch die Hände, zog meinen Stuhl hervor und sicherte mir eine der braunen Köstlichkeiten. „Hm … Nicht viel, fürchte ich. Chesters Laden war kaum besucht.“
„Wie enttäuschend.“
„Bis auf eines vielleicht: Mrs. Dollart lief mir über den Weg.“
„Wie erbaulich!“, ruckten ihre Augenbrauen erwartungsfroh in die Höhe. Bingo! Ich hatte sie an der Angel und verkniff mir ein Grinsen.
„Sie hat schon wieder eine andere Haarfarbe. Diesmal hat sie offenbar versucht, sie selbst zu färben.“
„Nicht dein Ernst!“ Ihre Augen wurden kugelrund und ihr Mund klappte auf. „Na los, ich will alles wissen!“
„Ich habe zufällig gehört, wie sie jemandem davon erzählt und sich über die unzureichende Gebrauchsanweisung aufgeregt hat.“
Was ich nicht für möglich gehalten hätte: Ihre Augen wurden noch ein wenig größer.
„Lass mich raten: Es ging daneben. Diese alte Schreckschraube ätzt sich noch die letzten Fussel vom Kopf! Welche Farbe hat ihr Fell denn jetzt? Pink?“
Ich verschluckte mich und hustete.
Nachsichtig klopfte sie mir den Rücken, murmelte etwas von ‚Ist doch wahr!’ und setzte nach: „Geht’s?“
„Du bist unmöglich, weißt du das?“, keuchte ich, trank rasch einen Schluck Kaffee und grinste dann doch breit. „Es sollte wohl rot werden. Sie war der Ansicht, dass es damit voller wirke. Und jetzt
ist sie orange, hat aber erst morgen einen Termin beim Friseur, der nun Schadensbegrenzung betreiben soll.“
„Morgen!“, grinste sie sofort. „Ob ich wohl bei Amanda noch einen Termin für morgen bekomme? Ich würde zu gerne sehen, wie sie sich als wandelnde Leuchtreklame macht! Ob sie blinkt, wenn man ihr eine
Batterie in den Mund steckt?“
Kichernd schüttelte ich den Kopf. Mrs. Dollart hatte aktuell tatsächlich entfernte Ähnlichkeit mit einer orangefarbenen Neonröhre. Als ich mit meinem Einkaufswagen um das Regal herum auf sie
zugesteuert war, hatte ihr Gesicht in schneller Folge zweimal die Farbe gewechselt, bevor sie die Geistesgegenwart besessen hatte, sich ihr Kopftuch wieder überzuziehen. Offenbar wähnte sie sich
hinter dem Regal unbeobachtet und ungehört und hatte es nur für ihre Bekannte zu Demonstrationszwecken gelüftet.
„Mich würde wirklich mal interessieren, weshalb ihr beide euch seit all den Jahren immer noch ständig wie zwei Kampfhähne belauert! Du und sie, ihr seht euch doch höchstens ein paarmal im Jahr und
selbst dann nur zufällig oder beim Friseur“, stellte ich fest.
„Das kann ich dir genau sagen“, antwortete Grandma, steckte sich einen Krümel vom Teller in den Mund und grinste ein wenig schadenfroh. „Sie hat mir nie verziehen, dass dein Grandpa sich für mich
statt für sie entschieden hat!“
„Immer noch diese Geschichte?“, versetzte ich.
„Immer noch und ausschließlich. Wenn man davon absieht, dass sie grundsätzlich ein alter Neidhammel ist. Sie ist nur wenige Wochen jünger als ich und war damals hinter ihm her wie der Teufel hinter
der armen Seele. Buchstäblich alles hat sie versucht, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, aber dein Grandpa hat sich nie für sie erwärmt, Josephine hat den Kürzeren gezogen.“
Sie zuckte die Achseln und jetzt spiegelte ihre Miene etwas Erstauntes.
„Tatsache ist: Es hat sich nie einer von den Jungs ernsthaft für sie interessiert und das kreidet sie mir bis heute vermutlich noch zusätzlich an! Mehr als ein Rendezvous hatte sie nie mit ein und
demselben Kerl.“
Wieder schüttelte ich den Kopf, jetzt gespielt entsetzt.
„Mrs. Dollart ist eigentlich eine Miss Dollart, sie war nie verheiratet?“
„Richtig. Ein Thema, das sie stets gekonnt umschifft oder abblockt. Und da du nie gefragt hast, konntest du es auch nicht wissen, zumal sie seit ihrem dreißigsten Geburtstag auf diese Anrede besteht.
Seither färbt sie sich einmal pro Quartal ihr Gefieder neu und balzt herum.“
„Ich ahnte nicht, dass du eine so bösartige Ader hast! Schäm dich, Grandma!“
„Pff, das hat sie sich selbst zuzuschreiben! Wenn sie fünfzig Jahre jünger wäre, fiele sie heute mit ihrem Farbwechselspiel und ihrer Kleidung nicht auf. Manch junge Frau läuft bunt wie ein
Paradiesvogel herum und zeigt mehr Haut, als nötig wäre. Aber Josephine …“
Sie beugte sich vor und senkte die Stimme bedeutungsvoll, als ob jetzt sie Zuhörer befürchten würde.
„Ich erinnere mich, dass sie einmal gleich vier Knöpfe ihrer Bluse aufgeknöpft hat, als dein Grandpa vorbeikam. Vier! Dann hat sie sich sogar noch vorgebeugt und so getan, als ob ihr Schuh offen
wäre! … Lach nicht“, versetzte sie, als ich auflachte, „zu meiner Zeit ging man damit schon als leichtes Mädchen durch! Ich vermute, dass sie deshalb auch keinen abbekommen hat. Sie war den Jungs und
jungen Männern damals gut genug, um mal mit ihr auszugehen und vielleicht ein bisschen im Auto hinter irgendwelchen Büschen zu parken, aber für mehr …“
Sie stockte und warf mir einen schiefen, vielsagenden Blick zu, unter dem ich mich fast schon wieder verschluckt hätte.
„Was?“, nuschelte ich misstrauisch und legte schnell den Rest meines Brownies weg.
„Heute sind ganz andere Zeiten und mir geht soeben auf, dass du vielleicht mal ein wenig … forscher rangehen solltest! Wieso schleppst du nicht mal jemanden ab, wenn ich nicht da bin und euch
überraschen könnte? Wieso habe ich dich nie ermahnen müssen, deinen Bauchnabel oder dein Dekolleté nicht allzu offenherzig herzuzeigen oder irgendwelche Piercings zu entfernen?“
„Granny!“, rief ich, diesmal ehrlich entsetzt.
„Ach, ist doch wahr! Geh mal mit jemandem aus und komm erst am nächsten Morgen wieder! Ich musste mich deswegen all die Jahre nicht sorgen, das ist nicht normal! Gibt es denn keine Männer mehr? … Hm
…“
„Was?“, wiederholte ich mich selbst mit noch mehr Nachdruck.
„Nichts! Ich frag mich nur gerade, ob Josephine irgendwann mal auf die Idee gekommen ist, sich irgendwo piercen zu lassen. … Ob sie wenigstens eines dieser Tattoos hat? Über ihrem verknöcherten
Hintern vielleicht?“
Eine bildhafte Vorstellung, die sich schlagartig in mein Gehirn einbrannte und dort vermutlich ewig bestehen bleiben würde. Um ein Haar hätte ich bei diesen Worten meinen Kaffee vergossen und als ich
jetzt demonstrativ beides, Tasse und den soeben erst wieder aufgenommenen Kuchen, fortstellte beziehungsweise -legte und mich nach hinten lehnte, lenkte sie ein.
„Wirklich, du hast ein viel zu zartes Gemüt, aber okay, ich hör schon auf! Grausige Vorstellung im Übrigen, du hast recht … Noch Kaffee?“, bot sie mir scheinheilig an.
„Nur, wenn unsere Gesprächsthemen in eine andere Richtung gehen!“, schnaubte ich. „Ich kenne dich offenbar immer noch nicht.“
„Glaub mir, du kennst längst nicht alle meine heimlichen Seiten! Wo bliebe denn der Spaß, wenn man in mir lesen könnte wie in einem offenen Buch?!“
Mit einem bezeichnenden, überaus selbstzufriedenen Lächeln schenkte sie uns beiden nach, dann nahm sie schweigend den vorletzten Brownie, lehnte sich zurück und fing an, ihn in aller Seelenruhe
genüsslich aufzuessen.
Als ich eine gute Stunde später in meinem kleinen Bad den beschlagenen Spiegel mit dem Handtuch abwischte, schoss mir ihre Bemerkung über
Mrs. Dollart erneut durch den Kopf. Grandma war von Natur aus eine echte Kämpferin und hätte sicher niemals klein beigegeben. Hier waren ganz klar zwei schon damals ebenbürtige Dickschädel
aneinandergeraten, auch wenn mir eindeutig der Dickschädel, mit dem ich gemeinsam unter diesem Dach lebte, der wesentlich liebere und sympathischere war. An Granny gab es keine falsche Ader und
obwohl mir garantiert einige Details fehlten, war ich sicher, dass diese lange zurückliegende Fehde nicht von ihr ausgegangen war.
Lächelnd bürstete ich meine nassen Haare und versuchte, mir die beiden Kampfhennen in jungen Jahren vorzustellen. Bei Josephine Dollart wollte es mir nicht gelingen. Teils, weil hier in der Gegend
vermutlich niemand mehr ihre natürliche Haarfarbe kannte und teils, weil sie in meinem Kopf seit heute als Teenager immer einen leuchtend orangeroten Pferdeschwanz haben würde.
Grandma hingegen war, wie ich nicht nur von alten Fotos wusste, eine bildhübsche junge Frau gewesen mit langen, lockigen Haaren, die noch bis zu meiner frühesten Kindheit einen ähnlich kräftigen
Rotton wie meine gehabt hatten. Moms Haare waren eher von einem dunklen Rotbraun, sie hatte viel von Grandpa geerbt. Erst bei mir war dieses Erbe offenbar wieder voll zum Tragen gekommen.
Auf jeden Fall konnte ich mir lebhaft vorstellen, dass Granny damals ein recht wildes Temperament gehabt haben musste – wie noch heute unschwer zu erraten war. Sie nahm niemals – niemals! – ein Blatt
vor den Mund und hatte mich von Anfang an dazu angehalten, es darin wie sie zu halten …
‚Sei immer höflich, aber sei stets ehrlich. Oder halte den Mund, wenn dir eine Antwort aus irgendeinem Grund unangebracht erscheint. Aber lass dich niemals dazu herab, die Unwahrheit zu sagen. Unehrlichkeit führt nur zu noch mehr Unehrlichkeit und zu einem schlechten Gewissen, das man nie wieder loswird und das mit der Zeit immer größer wird. Also sag stets, was du denkst. Nein, besser: Das, was du denkst, sollte stets mit dem übereinstimmen, was du sagst. Sofern du etwas sagst. Verstehst du den Unterschied?’
Ich verstand ihn sehr wohl. Und indem ich von Granny als meinem Vorbild lernte, wie man die Wahrheit auch auf Umwegen oder diplomatisch
ausdrücken konnte, sodass sie nicht verletzte, machte ich mir ihre Art durchaus immer mehr zu Eigen. Ich lernte, höflich zu lächeln und zu schweigen, anstatt freche Antworten zu geben, Gegenfragen zu
stellen und hin und wieder eine ironische oder witzige Entgegnung von mir zu geben. Oder – in sehr seltenen Fällen – jemanden mit einer frappierenden, unleugbaren Wahrheit mundtot zu machen.
Grandpas Beerdigung fiel mir wieder ein. Ich hatte etwas mit angehört – die einzige, mir in Erinnerung gebliebene ‚Begegnung‘ Granny versus Mrs. Dollart. Grandmas Erklärung, weshalb sie und Josephine
sich seit einer Ewigkeit beharkten, bestätigte mir somit erneut eine lang gehegte Vermutung. Ich war damals neun Jahre alt und konnte daher – anders als heute – mit ihren Worten nicht viel anfangen.
Aber ich hatte, von ihnen unbemerkt, hinter der halboffenen Tür gestanden und durch den schmalen Schlitz zwischen Tür und Rahmen zugesehen und -gehört, wie sie auf eine Bemerkung ihrer besten Feindin
Josephine Dollart reagierte. Worte, die ich mir gut gemerkt hatte:
Nach der üblichen Beileidsfloskel hatte diese mehrfach scheinheilige und zuletzt verletzende Andeutungen gemacht. Hinter jeder einzelnen Bemerkung hatte, mehr oder weniger versteckt, zumindest eine
neugierige Frage gesteckt: Dass sie ja jetzt eine reiche Witwe sei, gut versorgt mit einer sicher ansehnlichen Witwenrente, dem hübschen, schuldenfreien Haus samt Grundstück … Robert habe doch
bestimmt auch rechtzeitig mit einer zusätzlichen Lebensversicherung vorgesorgt?! … Ob ihr eigentlich klar sei, dass sie ihn ihr damals ausgespannt habe?
Und das war der Punkt, an dem Grandma der Kragen geplatzt war. Doch anstatt ihr eine Szene vor allen anderen Trauergästen zu machen oder sich auf ihr Niveau hinabzubegeben, hatte sie wie so oft mit
der Zunge geschnalzt. Mit zwar bleichem Gesicht aber dennoch einem Lächeln in der Stimme hatte sie ihr leise, betont freundlich und fast schon sanft eine Abfuhr erteilt …
„Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Robert hat mir schon lange vor unserer Hochzeit erzählt, was du alles versucht hast
in der Hoffnung, er bekäme Stielaugen. Aber offenbar hat etwas an mir ihn weit mehr gereizt, Josephine. Unter anderem liebte er mich, weil ich mehr Herz, weniger Ehrgeiz und keinerlei
materialistische Hintergedanken hatte, als ich seinen Heiratsantrag angenommen habe. Ich hätte ihn auch genommen, wenn er ein armer Schlucker gewesen wäre. Jedenfalls hat er nie bereut, dass er mich
dir vorgezogen hat, sonst hätte er mich gewiss nicht erst vor einem Jahr gebeten, unser Ehegelübde zu erneuern.
Darf ich dir jetzt vielleicht noch ein Stückchen Kuchen anbieten? Roberts Lieblingskuchen im Übrigen. Oder lieber ein Glas Sherry auf den Schreck? Nein? Entschuldigst du mich dann bitte kurz, ich
glaube, die Lawrences wollen aufbrechen. Ich bin gleich wieder für dich da, falls du noch weitere Fragen hast …“
Nur noch mechanisch zog ich bei diesen Erinnerungen die Bürste durch meine Haare und seufzte. Schon knapp zwei Jahre später hatten sich
hier im Haus bis auf ein paar Ausnahmen die gleichen Personen erneut eingefunden, um nach Moms und Dads Tod und Beerdigung zu kondolieren. War ich schon nach Grands Tod tieftraurig über seinen
Verlust, so war ich damals nach deren Unfall zutiefst verstört.
Die Erwachsenen hatten mir der Reihe nach auf die Schultern geklopft oder mir über die Haare gestrichen, traurige und bedauernde Gesichter zeigend. Sie hatten hinter meinem Rücken miteinander
geflüstert und abgebrochen, wenn sie mitbekamen, dass ich sie ansah, und hatten immer wieder Floskeln von sich gegeben wie ‚Du armes Ding! So ganz alleine!‘, ‚Es tut uns ja so leid, aber deine Mom
und dein Dad sind nun bestimmt im Himmel!‘ oder ‚Du musst jetzt ein ganz tapferes Mädchen sein!‘
Irgendwann war es mir zu viel geworden. Ich hatte mich in Grandmas Schlafzimmer geflüchtet und in ihrem großen Kleiderschrank verkrochen, wo es immer ein wenig nach Lavendel duftete – ein Geruch, der
mich seitdem und sicher für den Rest meines Lebens an sie erinnern würde. Dort fand sie mich etwa zehn Minuten später, hatte ihre Kleidung mit Schwung zur Seite geschoben und die Tür hinter sich
wieder zugezogen, um sich mit mir zusammen schweigend und geduldig wartend in den dunklen Schrank zu setzen. Erst viel später war mir klargeworden, dass sie damit sämtliche Gäste kurzerhand sich
selbst überlassen hatte.
Es hatte keine Minute gedauert, da war ich zu ihr hingekrabbelt, hatte meinen Kopf in ihren Schoß gelegt und eine Ewigkeit lang herzzerreißend geweint, bis ich irgendwann darüber eingeschlafen war.
Und sie war immer noch bei mir, als ich über eine Stunde später wieder aufwachte, in ihrem Bett. Eine zuverlässige Seele, ein Fels in der Brandung, der nicht wich und nicht wankte. Noch heute sah ich
ihr blasses, bekümmertes Gesicht vor mir, aber auch ihre entschlossen funkelnden Augen und das liebevolle Lächeln, das in diesem Moment darin erschien…
„Julia, merk dir genau, was ich dir jetzt sage: Ganz egal, was die Leute reden, ganz egal, wie läppisch die Bemerkungen sind, die sie
heute machen und sicher auch noch lange von sich geben werden, deine Mom und dein Dad sind immer bei dir! Du kannst sie nicht mehr sehen oder berühren, aber hier“, tippte sie sich an ihre Brust, dann
an meine, „und hier“, tippte sie an ihre Stirn und an meine, „werden sie immer bei uns sein. Sie gehören dort für immer uns, niemand anderes kann da rein und sie uns wegnehmen. Niemand auf der ganzen
Welt. Du und ich, wir beide haben sie am besten von allen gekannt und wir werden dafür sorgen, dass sie immer da drin sind. Ich werde dir mit der Zeit alles erzählen, was ich über sie weiß, und du
wirst mir alles erzählen, was du von ihnen in Erinnerung hast. Damit wir niemals auch nur das Geringste von ihnen vergessen.
Und noch etwas: Es ist absoluter Blödsinn, tapfer zu sein, wenn jemand gestorben ist, den man so lieb hatte! Wenn dir nach weinen ist, dann weine, egal wo du gerade bist! Wenn dir danach zumute ist,
wütend zu werden und irgendetwas kaputtzumachen, weil sie dich hier zurückgelassen haben, dann tob dich aus – mir macht das nichts aus und ich hab sowieso ein paar Teller und Tassen zu viel im
Schrank, okay? Und lass dir ja von niemandem einreden, dass sich das nicht gehört oder dass du dich zusammenreißen sollst oder eine ähnliche, gequirlte Scheiße … Entschuldige, das sagt man eigentlich
nicht. Aber es ist nun mal gequirlte Scheiße. Sag niemandem weiter, dass ich das gesagt habe, okay?“
Ich hatte mit großen Augen, wenn auch schon wieder unter Tränen genickt. Und dann hatte ich sie mit schwankender Stimme gefragt, ob sie damals auch wütend auf Grandpa gewesen sei, nachdem er
gestorben war.
„Und wie! Zuerst war ich nur traurig und verzweifelt, Julia. Lange Zeit. Das wird dir ebenfalls so ergehen. Dann aber, als ich irgendwann Grandpas Kleiderschrank ausräumte und seine Kleider in den
Händen hielt …
Ich war so wütend darüber, dass er mich verlassen hat, dass ich fast alle seine Hemden zerrissen habe und nicht damit aufhören konnte, bis ich zuletzt richtig atemlos war – auch, weil ich
herumgebrüllt habe. Dem Himmel sei Dank, dass mir niemand zugehört hat!“, grinste sie schief. „Da waren sicher ein paar ganz unschöne Worte bei.“
„So wie gequirlte Scheiße?“, hatte ich unter Tränen lächelnd geflüstert.
„Ja, so wie gequirlte Scheiße!“, hatte sie leise gelacht, sich neben mich aufs Bett gelegt und mich in ihre Arme gezogen …
Seit diesem Tag war ich ihr außergewöhnlich nah und teilte mit ihr mehr, als ich jemals mit meinen Eltern geteilt hatte – was mich lange
Zeit mit einem schlechten Gewissen ihnen gegenüber erfüllt hatte. Bis ich irgendwann einsah, dass ich damit nicht nur mir, sondern auch ihr über eine tiefe Trauer hinweghalf.
Das Ganze war jetzt acht Jahre her, ich hatte vor Kurzem meinen neunzehnten Geburtstag gefeiert. Grandma war noch immer jener unverrückbare Fels in der Brandung und der Gedanke, von hier fortzugehen
und ein College oder eine Universität zu besuchen, rief fast schon Panikattacken in mir hervor. War das normal? Ganz sicher nicht! Würde ich dagegen angehen?
…
Nein. Noch nicht. Keine Ahnung, wann ich bereit sein würde, mich von ihr zu lösen. Der allgemeinen Meinung nach sollte ich hierzu wohl einen Psychiater zu Rate ziehen, doch ich hatte keine Lust, die
Vorgänge in meinem Oberstübchen von einem Fremden zerpflücken zu lassen.
Mit einem tiefen Seufzen ließ ich mich auf das Bett fallen und zog die Beine an. Dann breitete ich sorgfältig meine langen Haare auf dem Handtuch aus, um sie in der sommerlichen Wärme trocknen zu
lassen. Schon die Schulpsychologin hatte es „Verlustängste“ genannt. Ich müsse anfangen, mich davon zu befreien …
Ich hatte damals lange darüber nachgedacht und war zuletzt zu einem Schluss gekommen: Es war nur zu einem kleinen Teil die Angst, Grandma eines Tages an den Tod zu verlieren. Mir war nicht erst nach
Grandpa, Mom und Dad klar, dass auch sie irgendwann gehen würde, das war es nicht. Grund war schlicht und ergreifend der Wunsch, jeden einzelnen Tag, den ich mit ihr haben würde, auszukosten und ihr
nicht weniger zurückzugeben als das, was sie mir all die Jahre gegeben hatte.
Und ein weiterer Grund war die unterschwellige und rational nicht zu begründende Angst, dass früher oder später der Tag oder ein Jemand kommen könnte, der mich anstatt ihrer von hier wegholen würde,
wohin auch immer! Also nein, ich würde die Vorgänge in meinem Oberstübchen von niemandem analysieren, deuten, zerpflücken und neu zusammensetzen lassen!
Die Schatten, die die Sonne von den Fensterkreuzen auf den Boden zeichnete, waren länger und blasser geworden als ich nach einer Weile aus meiner gedanklichen Leere ins
Hier und Jetzt zurückkehrte. Wieder einmal hatte ich offenbar nur geistesabwesend vor mich hingestarrt und die Zeit darüber vollkommen vergessen. Meine Haare waren nahezu trocken und als ich jetzt
aufsprang, fragte ich mich wie schon ungezählte Male zuvor, ob ich nicht wenigstens selbst einmal meinen Verstand durchforsten sollte. Grandmas Frage, wo ich im Geiste nur immer sei, hatte durchaus
eine Berechtigung angesichts meiner Tagträumereien, aber das würde ich ihr sicher nicht eingestehen. Eines der wenigen Dinge, die ich für mich behielt.
Entschlossen lief ich die Treppe hinunter, den Korb mit meiner Wäsche unter dem Arm. Nach einem Blick in die Trommel der Waschmaschine stopfte ich noch meine eigene Jeans dazu, bevor ich sie
verschloss und einschaltete. Grandma hatte ich im Vorbeieilen auf der Couch im Wohnzimmer liegen sehen. Um diese Uhrzeit sah sie meist Nachrichten im Fernsehen; anschließend würde sie vermutlich
wieder von Sender zu Sender switchen auf der Suche nach einer Soap oder Quizshow, bei denen sie gewöhnlich nicht mit ironischen, gutmütig-bissigen oder humorvollen Kommentaren sparte. Und in
spätestens einer Stunde würde sie langsam einnicken, mir zuletzt gähnend die Fernbedienung in die Hand drücken und eine gute Nacht wünschen.
„Julia?“
„Hier!“, rief ich und huschte zum Kühlschrank, um mir einen Joghurt herauszusuchen. „Soll ich dir etwas mitbringen?“
„Danke, nein. Aber komm bitte mal! Schnell!“
Überrascht schob ich die Kühlschranktür wieder zu und verzichtete darauf, einen Löffel aus der Schublade zu holen. Ich ließ auch den Joghurt stehen und beeilte mich, als sie mit einem erneuten
‚Schnell!‘ meine Überraschung in Besorgnis verwandelte.
„Granny? Alles okay?“
Sie saß da, den Rücken kerzengerade aufgerichtet, den Arm ausgestreckt und mit dem Zeigefinger zum Fernseher deutend, die Augen im bleichen Gesicht weit aufgerissen.
„Sieh dir den Mann dort an! In der ersten Zuschauerreihe, der mit den dunklen Haaren und dem kurzärmeligen, weißen Hemd …“
Erstaunt warf ich einen Blick auf den Bildschirm. Dort wurden soeben Bilder gezeigt von ein paar Schaulustigen, die am Rande irgendeines Polizeieinsatzes in Plattsburgh von der Kamera eingefangen
wurden. Im Vordergrund berichtete eine Reporterin etwas von einem Einbruch in ein Juweliergeschäft und als die Einstellung verändert und die Umstehenden samt Polizeiaufgebot kurz herangezoomt wurden,
sah ich sofort, wen sie meinte. Im gleichen Augenblick aber drehte der dunkelhaarige Mann sich um und wandte der Kamera sein Profil zu, so als ob er gerufen worden wäre. Schon schwenkte die Kamera
wieder zurück, ohne dass ich eine Chance gehabt hätte, sein Gesicht zu sehen.
Ich sah meine Grandma wieder fragend an – und erschrak. Sie war leichenblass und hatte den Mund wie zu einem stummen Aufschrei geöffnet.
„Granny? Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, ja, es geht mir gut“, winkte sie ungeduldig und mit gerunzelter Stirn ab, rutschte jedoch nun vor, bis sie vorgebeugt auf der Kante der Couch saß. „Julia, ich kenne diesen Mann! Himmel, können
diese Trottel ihn nicht nochmal zeigen?“
Ich sah wieder zum Fernseher, wo jetzt zuerst kurz eine Luftaufnahme der Gegend, dann erneut der Ort des Geschehens, das Geschäft, gezeigt wurde. Nochmals wurde die Reporterin ins Bild geholt, die
immer noch unablässig redete, mehrmals mit der freien Hand irgendwohin deutete, wohin die Kamera dann jeweils folgte … Und dann kam er aufs Neue im Hintergrund ins Bild.
„Granny, das ist viel zu weit weg, um jemanden genau zu erkennen. Es wird eine gewisse Ähnlichkeit sein …“, formulierte ich vorsichtig, denn auch mir kam etwas an ihm vage bekannt vor.
„Nein, sie hatten ihn eben groß im Bild, als der Kameramann die Leute zeigte. Jedes Mal schaut er seither fort, es ist zum Verrücktwerden! Und ich bin absolut sicher, dass er das ist! Obwohl das
nicht möglich ist, es ist jetzt über fünfzig Jahre her!“
„Granny“, setzte ich daraufhin an, aber sie unterbrach mich energisch, fast schon wütend.
„Julia, ich weiß genau, was du sagen willst, aber er sieht haargenau aus wie jemand, den ich vor rund fünfzig Jahren schon einmal hier gesehen habe! Sein Name war …“, sie überlegte angestrengt.
„Jared! Jared irgendwas, ich glaube, Freeman. Er war damals nur wenige Tage in der Gegend und verschwand wieder, ohne dass irgendwer Näheres über ihn erfahren hätte.“
„Und woher weißt du dann seinen Namen?“, fragte ich lächelnd.
Sie schnaubte erbost, starrte weiter auf den Bildschirm und gönnte mir nicht einmal einen Seitenblick.
„Weil er sich mir vorgestellt hat. Meines Wissens als einziger Person in der Gegend, auch wenn ich da natürlich nicht sicher bin. Am nächsten Tag war er fort. Spurlos verschwunden. Und jetzt taucht
er in Plattsburgh wieder auf.“
Ich trat langsam auf sie zu und nahm neben ihr Platz.
„Es muss ein Doppelgänger sein. Jemand, der ihm sehr ähnlich sieht. Oder du musst dich irren“, murmelte ich, ohne sie jedoch anzusehen. Denn jetzt wurde gezeigt, wie die Polizei versuchte, die
Umstehenden dazu zu bewegen, zu verschwinden, während im Vordergrund, scharf im Bild, Polizeibeamte die gefassten Einbrecher in die Streifenwagen verfrachteten.
„Da! Das ist er! Sieh ihn dir an, er schaut nicht mal zu bei dem, was da vor sich geht, es sieht so aus, als ob es ihn überhaupt nicht interessiert!“, deutete Grandma aufgeregt.
„Ich sehe es!“, murmelte ich. Der Mann mit dem weißen Hemd wirkte tatsächlich völlig desinteressiert, eigenartig isoliert. Anders als alle anderen Neugierigen, die dicht an dicht gedrängt hinter der
Absperrung sensationslüstern lauerten und die Hälse reckten. Er wirkte vollkommen gelassen, um ihn herum war trotz des Gedränges wenigstens eine Elle Platz und nun schob er gleichmütig die Hände in
seine Hosentaschen und schickte sich an, seitlich aus dem Bild herauszuspazieren. Für einen Moment verschwand er tatsächlich und Grandma neben mir stieß einen wütenden Laut aus. Doch dann fuhr der
erste Polizeiwagen in die gleiche Richtung los und die Kamera versuchte, ein größeres, schärferes Bild der Verhafteten auf dem Rücksitz zu bekommen: Sie wackelte plötzlich, wurde unscharf, verhielt
dann und zoomte zuerst kurz auf die Menschen, vermutlich, um wieder ein klares Bild zu bekommen …
Und in dem Augenblick, in dem er noch einmal ins Bild geriet, stand er still und sah für etwa zwei Sekunden voll in die Kamera, so als ob er uns bewusst ansehen wolle.
Ich ächzte leise und griff mir an die Kehle. Nicht nur Grandma kannte diesen Mann, ich kannte ihn ebenfalls! Diese dunklen Augen würde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen, denn seit annähernd
einem Jahr verfolgten sie mich in meinen Träumen!
...
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