„ICH HABE GETAN, WOZU ALLEN VOR MIR DER MUT FEHLTE!
WAS ES MIR GEBRACHT HAT? MÖGLICHKEITEN! UNGEAHNTE MÖGLICHKEITEN
UND ZEIT OHNE ENDE, EINFÄLTIGES DING!“
Julias holpriger Antritt als Traumwächterin geht zunehmend holprig weiter und die Notlage der Shepards ragt wie eine unüberwindbare Hürde vor ihr auf. Auch läuft weder in ihrem Privatleben noch in der noch frischen Beziehung zu Preston alles glatt. Zu allem Überfluss muss sie feststellen, dass Brent, der Bruder ihrer besten Freundin Ally, sich verändert hat. Nicht nur, dass er in sie verliebt ist und aus seiner Eifersucht keinen Hehl macht, er lässt auch keinen Zweifel an seinem Misstrauen den drei Shepards gegenüber aufkommen. Aus gutem Grund, wie Julia zu ihrem Entsetzen feststellen muss, denn die Zwillingsgeborene und der Löwe haben etwas gemeinsam …
Und Mailin? Noch immer wartet ihr „Echo“ jenseits der Traumgrenze auf ihre Chance, während Julia verzweifelt versucht, eine dauerhafte Lösung und Erlösung für Preston, Jared und Laverna zu finden.
Was, wenn Brent ihr in jeder denkbaren Hinsicht in die Quere kommt?
***
ISBN 978-3-8192-1185-0 (Print)
ISBN 978-3-8192-4032-4 (E-Book)
Taschenbuch 576 Seiten, Format: 12 x 19cm
LESEPROBE
Kapitel 2
Nahe Parishville, Gegenwart
Grannys Geburtstag war in mehrerlei Hinsicht ein Erlebnis. Zunächst, weil sie tatsächlich mit rosig gefärbten Wangen Dr. Walker eingeladen
und damit ihren Freundinnen Hazel und Iris schon im Vorfeld Anlass für neuen und ergiebigen Klatsch gegeben hatte. Dann, weil auch die Shepards eingeladen und vollzählig erschienen waren und nicht
zuletzt auch, weil weit mehr Leute auftauchten als ursprünglich geplant. Etwas, das sie ihren Freundinnen zu verdanken hatte. Sie habe schon ihren Siebzigsten nicht gefeiert und jetzt müsse sie eben
eine Schaufel Kohlen nachlegen.
Gemeinsam hatten sie ohne Grannys Wissen dafür gesorgt, dass schon am Vortag mehrere Helfer erschienen und auf der Wiese hinter dem Haus einen kleinen Tanzboden aufbauten. Granny fiel aus allen
Wolken und telefonierte eine halbe Stunde herum, bis sie die Urheber ermittelt und persönlich erreicht hatte. Und von ihnen überstimmt wurde.
Als dann am Nachmittag Hazel und Iris auftauchten, zusammen mit Jay und Dr. Walker Lichterketten und Lampions aufhängten sowie Stromkabel für eine kleine Musikanlage verlegten, gab sie es auf. Und
sie wäre nicht meine wundervolle Granny, wenn sie sich nicht von diesem Augenblick an mit Feuereifer in die Vorbereitungen gestürzt hätte.
Preston und Jared liefen zur Höchstform auf, als sie nach dem Aufstellen der organisierten Tische und Stühle vor und neben der Tanzfläche mit der Dekoration begannen. Sogar Laverna, die in den
letzten zwei, drei Wochen zwar nach wie vor abweisend und schweigsam, aber wenigstens in gewissem Rahmen höflich geblieben war, werkelte gemeinsam mit mir und Granny den ganzen Tag in der Küche.
Zusätzlich baute sie am frühen Abend, kaum dass die ersten Gäste eintrudelten, gemeinsam mit Hazel, Iris und mir im Schatten der Bäume ein durchaus reichhaltiges kaltes Buffet auf.
Zuletzt waren da über dreißig Personen, die verpflegt und unterhalten werden wollten. Jared und Preston trugen rasch zwei weitere Tische herbei und stahlen von den anderen Tischen ein wenig
Dekoration, um auch sie passend zu schmücken. Um die Musik kümmerte sich Jay, während der rotgesichtige Chester meiner strahlenden Grandma immer wieder verlegene und schmachtende Blicke zuwarf. Er
schien sich wie ein unsichtbarer Schatten an ihre Fersen heften zu wollen.
Ich seufzte, unschlüssig, ob ich mich weiter darüber amüsieren oder ihn bemitleiden sollte.
Glücklicherweise lenkte Ally mich ab. Sie war soeben zusammen mit Bill und – zu ihrem überaus offen zur Schau getragenen, gespielten Leidwesen – Brent im Schlepptau erschienen, eine monströse
Schüssel Salat balancierend. Granny war bei der Durchsicht der Gästeliste, die Iris ihr in die Hand gedrückt hatte, der Ansicht gewesen, dass „welker Salat von anno 1830“ nur aufgepeppt werden könne,
indem man „junges Gemüse“ untermische. Dann hatte sie etwas gemurmelt von „Ich gewöhne mir schon Chesters Lebensmitteljargon an, das muss aufhören!“, und gemeint, sie könne es jedenfalls nicht
verantworten, wenn die Shepards und ich uns ausnahmslos Geschichten von Hüftprothesen, Mittelchen gegen Altersflecken und den Vor- und Nachteilen von Gebissreinigern anhören müssten. Ally und Co.
landeten zusätzlich auf der Liste und wurden kurzfristig eher herzitiert als eingeladen.
„Wow, danke!“, nahm ich Ally die randvolle Schüssel ab und stellte sie sofort auf eine vorhin erst frei gewordene Stelle auf dem Buffet. „Schön, dass ihr gekommen seid!“
„Gerne. Ich wollte schon immer mal erleben, wie deine coole Granny mit ihren Freundinnen abrockt!“, nickte sie grinsend in Hazels Richtung, als diese zu einem Lied aus den Achtzigern mit den Hüften
zu wippen begann und leise mitsang.
„Da haben sich auch ein paar ungeladene Gäste untergeschmuggelt. Wenn das so weitergeht, kriegen wir die trotz eurer Hilfe nicht alle satt. Granny hat mit allerhöchstens zwanzig Leuten gerechnet nach
dem, was Iris aufgelistet und sie noch zusätzlich angefügt hat. Wo die anderen auf einmal alle herkommen … So viel zu Hazels und Iris‘ Organisationstalent!“
Sie mussten entsprechende Bemerkungen in ihren jeweiligen Freundeskreisen fallen gelassen haben, denn ich erkannte zumindest ein paar von ihren und Grannys alten Freunden wieder, zum Teil nicht aus
dieser Gegend. Den Altersdurchschnitt mit Ally, Bill und Brent zusätzlich zu den Shepards ein wenig nach unten zu regulieren, war jedenfalls gründlich danebengegangen.
„Mach dir keine Gedanken“, hörte ich Prestons Stimme hinter mir und drehte mich um. „Jared ist eben losgezogen und organisiert Nachschub. Hallo, du musst Ally sein“, reichte er ihr die Hand, die Ally
verwundert anstarrte, als wisse sie nichts mit dieser Geste anzufangen. Dann aber ergriff sie sie schulterzuckend und grinste schief.
„Ähm … ja. Entschuldigt“, warf ich ein. „Also, das sind Ally, ihr Freund Bill und ihr Bruder Brent und das ist Preston und das da vorne bei den Getränken seine Schwester Laverna.“
„Hi! Endlich kriege ich dich mal zu sehen, Julia macht ja ein ziemliches Geheimnis aus dir. Mach den Mund zu, Brent, das sieht dämlich aus!“, stieß sie ihren Bruder in die Seite. Dieser hatte erst
mir, dann Preston, der jetzt besitzergreifend einen Arm um meine Mitte legte, stirnrunzelnd einen grimmigen Blick zugeworfen.
„Halt lieber für einmal dein dämliches Mundwerk!“, schnappte er jetzt und nickte Preston finster zu, um mich sofort mit einem waidwunden Blick zu bedenken.
„Es ist toll, dass ihr Grannys Einladung gefolgt und gekommen seid! Danke! Ich hole sie gleich mal her, sie ist schließlich heute die Hauptperson“, lächelte ich schnell. Sofort schien sich seine
Stimmung wieder ein wenig zu heben, auch wenn er weiterhin misstrauische Blicke hinter Preston herschickte, der sich an meiner Stelle sofort darum kümmerte, Granny aus einem Grüppchen loszueisen. Ein
Grüppchen, an dem auch Chester klebte.
„Preston wer?“, grummelte Brent sofort.
„Preston Shepard. Er und seine Geschwister wohnen noch nicht lange hier“, gab ich kurz Auskunft in der Hoffnung, dass er nicht weiterfragen würde.
„Hier!?“, hakte er jedoch nach, halb Frage, halb Echo.
„In der Nähe von Plattsburgh. Sie haben … Sie machen hier Urlaub und haben ein Cottage gemietet.“
Ally verdrehte die Augen und zog Bill mit sich, Granny entgegen.
„Urlaub, aha. Und woher kennst du sie?“, folgte Brent mir unbeirrt in die Küche, nahm mir dabei das volle Tablett mit den benutzten Gläsern ab, um es hineinzutragen und sie nach einem kurzen,
neugierigen Rundblick gleich auch für mich in die Spülmaschine zu räumen.
„Zufall würde ich sagen.“
Ich überlegte. Er würde nicht der Einzige bleiben, der etwas über sie erfahren wollte und da Josephine Dollart, Grannys Erzfeindin, Jareds Ähnlichkeit mit seinem Alias Jared Freeman schon aufgefallen
war …
„Prestons Bruder war kürzlich im Fernsehen zu sehen und weil er einem von Grannys Jugendfreunden so ähnlich sah, hat sie erfolgreich Nachforschungen angestellt. Beim Sender. Meine Granny hat sich in
Bestechung geübt, um an Informationen zu gelangen.“
Wieso nicht einen Teil der Schuld auf Grandma abwälzen?
„Mit dem Ergebnis, dass sie jetzt alle hier sind?“, hob er die Augenbrauen und platzierte zusammen mit mir frische Gläser auf den leeren Tabletts. Ich seufzte lautlos, marschierte ans Eisfach,
klopfte neue Eiswürfel aus einem der Behälter in eine Glasschale und stellte sie dazu.
„Mit dem Ergebnis, dass sich eine Verwandtschaft mit dem Jugendfreund herausstellte, er sich ihr vorgestellt hat und seinen Bruder und seine Schwester gleich mit.“
Nicht mal gelogen, wenn man davon absah, dass dies nur ein Teil der Geschichte war. Ich hatte gekonnt ausgelassen, wer mit wem verwandt war und wer wen vorgestellt hatte. Und wann. Und über wen. Und
vor allem wie!
Es klingelte an der Haustür und ich war froh, seinen immer noch misstrauischen, anklagenden Augen für einen Moment ausweichen zu können. Ally hatte anscheinend doch recht: Es war schwer, ihm und
seinen Fragen zu entkommen!
Überrascht erkannte ich Conrad, Nicoles Schwager durch das Fenster und riss rasch die Tür auf. Auch er balancierte zwei riesige Schüsseln mit Salat und Fleischbällchen auf den Händen und grinste mich
breit an.
„Hi! Die soll ich vorbeibringen mit einem Gruß von Mum an deine Grandma. Sie sagt, sie habe nicht die leckeren Salate und den Auflauf vergessen und wünscht alles Liebe zum … äh …
Einundsiebzigsten?“
„Richtig! Wie hast du geklingelt mit den Dingern in den Händen? Komm doch rein … Wo sind die anderen?“
Nicole und Ron waren ebenfalls eingeladen, auch wenn in ihrem Fall von vornherein offengeblieben war, ob sie kommen konnten.
„Zu Hause. Und im Krankenhaus. Es geht los.“
Ich hatte ihm eine Schüssel abgenommen und wollte schon vorausgehen, wandte mich jetzt jedoch noch einmal um.
„Jetzt? Heute? Endlich!“
„Kann man wohl sagen! Dass eine Schwangere so rund werden kann!“, verdrehte er die Augen, nickte dem in der Küchentür stehenden Brent kurz grinsend zu und schob sich dann einfach an mir und ihm
vorbei. „Dad wollte schon die Dusche wieder rausreißen und um mindestens einen halben Quadratmeter vergrößern!“, lästerte er.
„Nicole?“, fragte Brent und ich nickte.
„Das sind doch jetzt sicher zwei Wochen über die errechnete Zeit, oder?“, wollte ich wissen und sah Conrad fragend an.
„Nicht ganz, fast. Sie war schon total verzweifelt!“, grinste er, stellte die Schüssel auf den einzigen freien Platz neben der Spüle und wollte sofort wieder los.
„Warte! Willst du nicht wenigstens eine Kleinigkeit essen und trinken?“
„Und mir das Theater zu Hause entgehen lassen? Bestimmt nicht! Mom ist mitgefahren und Dad hat seitdem schon einen tiefen Trampelpfad in den Boden zwischen Wohnzimmer und Küche gelaufen. Solange er
sich in diesem Zustand befindet, kriege ich bestimmt eine Taschengelderhöhung aus ihm rausgeleiert oder dass ich seinen Wagen öfter nutzen kann. Oder beides! Na ja, ehrlich gesagt, hätte ich auch
nicht gedacht, dass die ganze Aufregung auf mich abfärben würde. Dabei werde ich nur Onkel! Muss wohl ansteckend sein.“
„Was ist ansteckend?“, fragte Granny von der Hintertür aus, durch die sie gerade von Preston geschoben wurde. Ein großer, roter Weinfleck breitete sich auf ihrem weißen Rock aus. „Chester“, meinte
sie nur auf meinen fragenden Blick und zuckte die Schultern.
„Hey, herzlichen Glückwunsch, Mrs. Blair! Scheint ja eine tolle Party zu werden!“, deutete Conrad grinsend nach draußen und wurde mit einem breiten Lächeln belohnt.
„Danke dir! Wie du siehst, kann ich mich schon jetzt nicht mehr benehmen. Dabei ist es noch früh am Abend. Warte ab, bis ich auf den Tischen tanze!“
„Tabledance von Ihnen? Ich bleibe!“
Er lachte und ich schüttelte ein weiteres Mal den Kopf, den Weinfleck beäugend.
„Hm … Wie wäre es stattdessen mit der leichten, hellblauen Hose?“
„Ich soll eine Hose anziehen an meinem Geburtstag? Kommt nicht infrage!“, empörte sie sich. „Abgesehen davon regt Hazel sich schon die ganze Zeit über so hinreißend darüber auf, dass ich ganz in Weiß
herumrenne wie eine Braut! Wie könnte ich sie also enttäuschen?! Ich hatte gehofft, du leihst mir deinen weißen Rock, wenn ich dir verspreche, für den Rest des Abends einen großen Bogen um Chester zu
machen.“
„Einverstanden“, grinste ich. „Aber das wird dir schwerfallen, er hängt an dir wie eine Büroklammer am Magneten.“
„Wohl eher wie eine Reißzwecke an der Wand! Er ist echt anhänglich heute“, seufzte sie. „Jemand sollte ihm also beide Hände hinter dem Rücken zusammenbinden. Oder noch besser ihn komplett an einen
Baumstamm fesseln und mit Tomahawks in Schach halten. Gibt es eigentlich auch Kurse in Tomahawk- und Messerwerfen? Es gibt ja schließlich auch welche für Bumerangwerfen und Bogenschießen. … Was ist
also ansteckend? Doch sicher wir, die rothaarigen Blair-Frauen und unser Temperament!“, grinste sie zu Preston hoch.
Dessen warmer Blick traf jedoch mich und hielt meinen für einen Augenblick fest.
„Richtig. Geradezu infektiös!“
Ich fühlte, wie ich rot wurde und schnaubte.
„Okay, ich bin eine Krankheit! Ich hole den Rock und bringe ihn dir in dein Schlafzimmer, Granny.“
Brents Blick bei diesem kurzen Wortwechsel entging mir keineswegs, aber ich flüchtete ein weiteres Mal, als Conrad Grandma jetzt die letzten Neuigkeiten über Nicole berichtete.
Als ich kurz darauf ihr Schlafzimmer betrat und ihr meinen wadenlangen Sommerrock reichte, grinste sie schon wieder.
„Konkurrenz belebt das Geschäft, nicht?“
„Konkurrenz? Was meinst du? … Hier, hoffentlich ist er dir nicht zu weit.“
„Wird schon, allenfalls ein paar Zentimeter zu lang. Zündstoff für Hazel, ich sehe noch ein bisschen mehr nach Braut aus. … Ich rede von Brent! Der Junge hat sich ganz schön herausgemacht, seit ich
ihn das letzte Mal gesehen habe, aus ihm ist ein richtiges Sahneschnittchen geworden! Sollte er sich in dich verguckt haben?“
Ich lehnte wartend am Schrank und verdrehte die Augen, als sie mir einen amüsierten Blick zuwarf.
„Unterschätz ihn nicht, Liebes! Wenn ich mich richtig erinnere, ist er im August geboren und Löwe wie ich! Und wie wir ja jetzt dank Laverna alle wissen, haben Löwen ihren eigenen Kopf! Er wird
achtzehn?“
„Das wissen wir nicht erst seit Laverna, das wissen wir, seit wir dich kennen“, brummelte ich. „Und nein, er wird sechzehn.“
Sie wirkte ehrlich überrascht, lächelte dann jedoch und versetzte: „Ein gewaltiger Unterschied!“
„Kann man wohl sagen! Ich bin neunzehn!“
Sie seufzte, drehte sich vor dem bodentiefen Spiegel und wirkte mit einem Mal unsicher.
„Ist alles in Ordnung? Der Rock steht dir gut und die Länge ist okay! Oder wird dir das da draußen zu viel? Wir können sie auch alle rauswerfen!“
„So ein Quatsch! Solange euch die Arbeit nicht zu viel wird … Da sind ein paar Gesichter aufgekreuzt, die ich lange nicht gesehen habe. Und was die so alles erzählen! Daraus könnte ich ein Drehbuch
für eine eigene Daily-Soap verfassen! Offen gestanden habe ich mich schon lange nicht mehr so amüsiert und ich frage mich, weshalb ich das nicht letztes Jahr schon gemacht habe!“
„Weil du etwas Besonderes bist und nicht jede ihren Einundsiebzigsten so groß feiert?“, grinste ich.
Ihr Lächeln fiel jedoch ein wenig gezwungen aus und jetzt stieß ich mich vom Schrank ab und trat näher.
„Granny? Was ist los?“
Sollte ihr Alter ihr doch zu schaffen machen, auch wenn es nur eine Zahl war? Das sähe ihr gar nicht ähnlich!
Als ob sie meine Gedanken erraten hätte, verzog sie den Mund und meinte:
„Einundsiebzig! Ich habe nie in Erwägung gezogen … Ich meine … Na ja, er ist mal eben erst fünfundsechzig und möchte gerne noch wenigstens zwei Jahre lang seine Praxis für seine Stammpatienten
weiterführen …“
„Dr. Walker!“, erkannte ich erstaunt. „Und deshalb machst du dir Gedanken? Es ist doch völlig egal … Ach Granny! Hat er deshalb in den letzten drei Wochen ständig hier angerufen und sich nach mir
erkundigt? Angeblich!“
„Woher soll ich das wissen?!“, versetzte sie stirnrunzelnd. „Dieser Mann ist mir ein Rätsel! Er hat nie etwas angedeutet, in all den Jahren nicht. Und im Moment steht er da draußen und kann seine
Augen offenbar nicht von Iris lassen.“
„Granny, du bist ja eifersüchtig! Dass ich das noch erleben darf“, grinste ich breit.
„Lass deine dummen Bemerkungen, jemand könnte dich hören!“, grollte sie und entfernte eine nicht existente Fluse von meinem Rock.
Ob sie sich auf die Shepards und ihre guten Ohren bezog?
„Ich habe Brent übrigens erzählt, dass ich sie über dich und deine Nachforschungen kennengelernt habe. Das mit der Ähnlichkeit zwischen Jared und Jared. Bei dieser Geschichte sollten wir bleiben,
egal, wer fragt.“
„Komisch, dass du bei diesem Thema auf sie kommst“, lächelte sie, sah noch einmal an sich herab und nickte dann. „Ist vielleicht ein klein wenig lockerer als gewohnt um die Taille und etwas länger
als bei dir, aber das passt schon. Notfalls rettet mich eine Sicherheitsnadel oder doppelseitiges Klebeband. Können wir?“
„Wann immer du bereit bist!“, schnappte ich mir ihren Rock, um ihn gleich in kaltem Wasser einzuweichen. „Und Granny? Erinnere dich an deine eigenen Worte: Wieso schleppst du nicht mal jemanden ab,
wenn ich nicht da bin und euch überraschen könnte? Wieso also nicht Dr. Walker, wenn er dir gefällt? Geh mal ein bisschen ran, zeig Bauchnabel, üb Schleiertanz! Oder bedrohe ihn mit Tomahawks, wenn
er Iris nicht in Ruhe lässt! Der Altersunterschied zählt nicht, nur ein jüngerer Mann kann mit dir mithalten.“
Ich wich gekonnt ihrer Hand aus, die mir einen Klaps geben wollte, und kicherte noch leise, als ich wieder in die Küche kam, wo Preston und Brent sich gegenseitig zu belauern schienen. Seufzend
schwenkte ich sofort ab in den Wäscheraum nebenan und ließ eine Schüssel mit Wasser volllaufen, in die ich dann den hoffentlich noch zu rettenden Rock stopfte.
„Ein Cottage am Lake Ozonia, aha“, hörte ich Brent nebenan. „Und wie lange gedenkt ihr dort noch Urlaub zu machen?“
„Oh, bezahlt ist es mittlerweile bis Ende Oktober. Was dann wird, werden wir sehen.“
Mein Herz tat einen Hüpfer. Ende Oktober!
„Ihr könnt so lange blaumachen? Ist ja beneidenswert! Was macht ihr denn so?“
Fast hätte ich die Schüssel fallengelassen. Ich konnte sie so eben noch festhalten und heil auf der Waschmaschine abstellen.
„Ehrlich gesagt, verprassen wir gerade unser Erbe!“
Ich konnte Prestons Stimme das Lächeln förmlich anhören.
„Klingt ja wahnsinnig beeindruckend! Ich glaube allerdings nicht, dass Julia auf Protzer und Prasser steht!“, ging er zum Angriff über.
„Da könntest du recht haben. Nun, was mich betrifft, habe ich schon mal erwogen, mein angefangenes und aus privaten Gründen abgebrochenes Studium wieder aufzunehmen. Irgendwann.“
Sein Medizinstudium? Vorsicht, Preston! Brent war durchaus in der Lage, nachzuforschen, ob er irgendwann irgendwo immatrikuliert war!
Schnell wischte ich meine Hände an der Hose ab, dachte zu spät daran, dass jetzt Wasserflecken auf dem hellbeigen dünnen Stoff zu sehen sein würden, und huschte ein wenig zu schnell zurück in die
Küche.
„Hi, bin wieder da! Könnte mir jemand dabei helfen, die … Oh, sind schon draußen! Wie steht es mit Getränken? Haben wir noch ausreichend Gläser?“
„Alles läuft, Julia“, lächelte Preston beruhigend. „Laverna und Jared haben alles im Griff, er ist zurück und kümmert sich.“
„Okay“, murmelte ich und warf einen raschen Blick aus dem Fenster. Offenbar machte er sich gerade selbst mit Ally und Bill bekannt. Gut. Noch etwas, was ich nicht in die Hand nehmen musste.
„Dein Bruder? Du hast dich nicht von hier weggerührt! Woher weißt du, dass er …“, holte Brent mich aus dieser Überlegung und wurde unterbrochen.
„Hast du den Jeep nicht gehört? Ich schon, er gehört Jared.“
„Jeep? Bei der Musik und dem lauten Ge... ähm … den lauten Unterhaltungen hast du ein Auto gehört, das vor dem Haus anhielt?“
„Jepp. Ich habe gute Ohren. Und ich habe Jared eben durch die offene Tür gesehen, er hat die mitgebrachten Getränke abgestellt und sammelt schon wieder Gläser ein“, deutete er nach draußen.
Brent stieß sich vom Schrank ab und wandte sich um, um ebenfalls einen Blick in den Garten zu werfen. „Der Dunkelhaarige bei deiner Schwester“, grollte er und fuhr in einer sicherlich unbewussten
Geste mit der Hand über seine blonden, zurzeit kurzen Haare.
Hoffentlich kam er jetzt nicht auf die Idee, sie sich zu färben!
„Er kommt mir bekannt vor.“
Oh nein, nicht auch das noch!
„Im Fernsehen, sagtest du? Ist er jemand, den man kennen sollte oder was?“
„Nein, sicher nicht. Er war unter den Leuten, die letzten Monat bei dem Einbruch bei diesem Juwelier in Plattsburgh standen. Hinter der Absperrung. Zufall, sagte ich ja schon“, antwortete ich
schnell.
„Zufall … Ihr seht euch nicht sehr ähnlich“, murmelte er und warf Preston einen raschen, eindeutig provozierenden Blick zu.
Was war heute nur mit ihm los?
„Nein, er und Laverna sehen sich wesentlich ähnlicher. Du und deine Schwester übrigens auch. Sehr … blond.“
Es gelang mir, Preston unbemerkt in den Arm zu kneifen und lächelte sofort unschuldig.
„Wollen wir nicht auch wieder raus? Grandma fragt sich sicher schon, warum wir uns hier drin verkriechen.“
„Gerne“, nickte Brent sofort und stellte sich so, dass er Preston den Weg versperrte und ihn mir freimachte.
Mit einem lautlosen Seufzen trat ich an ihm vorbei ins Freie. O ja, Grannys Geburtstag würde ein aufregender, unvergesslicher Tag werden!