Ein altes, wohlbehütetes Amulett, Erinnerungen und eine schmerzhafte Lücke –
es ist wenig, was Hopes Mutter Elaine hinterlässt.
Vordergründig! Denn der Fund, den Hope und ihr Bruder Peter Wochen später machen,
ist umso überraschender: Eine ganze Schublade voller meisterhafter Zeichnungen, darunter solche, die völlig fremde Orte und Personen zeigen.

Zufall, dass gerade jetzt ein Bote auftaucht? Im Auftrag ihres totgeglaubten Großvaters
überbringt Nim-To Hope ein Selbstporträt ihrer Mutter – und das exakte Spiegelbild
ihres Amuletts! Mysteriös genug, dass beide Teile, einmal zusammengefügt, ein un-
trennbares Ganzes ergeben. Beängstigend aber ist, was es nun bewirkt, denn Hope wird
gegen ihren Willen durch ein Lichtportal gezerrt. Sie findet sich urplötzlich in einer
Welt wieder, in der ihre Mutter unter dem Namen Ela-Ina gelebt haben und in welcher
diese magische Passage eine fundamentale Rolle spielen soll.

Hope scheint mehr zu sein als nur die Tochter ihrer Mutter, doch diese Welt namens Aroda
hält gleichzeitig auch mehr für sie bereit,
als sie zu akzeptieren gewillt ist.

 

***

 

ISBN 978-3-7519-6743-3

700 Seiten, Taschenbuch;

Format: 12 x 19cm

Auch als E-Book erhältlich

LESEPROBE:

 

  Hi, ich bin Hope. Viel gibt es nicht über mich zu erzählen, aber das hier ist auch nicht nur meine Geschichte. Na ja, nicht ausschließlich jedenfalls ...
  Geboren wurde ich an einem zwölften Juli und ich war gerade neun, als wir wegen Mums Gesundheit und ihres neuen Jobs nach Fairfax, Vermont, zogen. Bis dahin hatte ich nie etwas von Fairfax, Vermont, gehört. Als Kind der Großstadt Boston war ich an lauten Verkehr neben grünen Parks, alte Gebäude neben modernen Bürohäusern, große Einkaufszentren und kleine Läden gleich um die Ecke gewöhnt. Ebenso an viele Menschen, breite Straßen, U-Bahnen, die praktisch vor (oder besser gesagt unter) der Haustür hielten und Greyhound-Busse, die uns hinbrachten, wohin und wann immer wir wollten. Doch damals sollten wir auf einmal in ein Haus unweit eines Flusses ziehen. Ein Haus nur für uns ganz allein, mit viel Wald drum herum, viel Natur, viel Stille.
  Oh ja, Mum und Dad schwärmten in einem fort, aber sie waren die Einzigen, die sich auf den Umzug freuten, denn Peter, mein Bruder, ließ seine zahlreichen Freunde zurück und ich meine Freundin Frances. Schon alleine diese Vorstellung ließ meine kleine Welt aus meiner kindlichen Sicht „kaputtgehen“. Aber Mum würde nun mal künftig Mathematik an der BFA in Fairfax unterrichten – was bedeutete, dass sowohl Peter als auch ich ihr dort jeden Tag über den Weg laufen würden.
  Doch nicht genug damit, denn sie unterrichtete Mathe nicht bloß, sie war ein Mathegenie und im Grunde total überqualifiziert für diesen Job. Ich wusste, ich war erledigt, denn ich war da wie Dad: Mathematik war für mich ein Buch mit sieben Siegeln; alles, was über simple Geometrie oder Bruchrechnung hinausging, verursachte bei mir schlagartigen Intelligenzausfall. Und ich würde ganz sicher total erledigt sein, sobald meine neuen Mitschüler das alles feststellten. Der Wunsch, dort eine neue Frances zu finden, war ohnehin Utopie!
  Peter protestierte mehr oder weniger überzeugend, ich dagegen war todunglücklich und weinte tagelang, bevor ich kapitulierte und mich stattdessen stumm abkapselte, mich in mein Schneckenhaus zurückzog. Ebenfalls tagelang.
  Auch das half natürlich nichts: Wir zogen um und Mum fühlte sich schon bald besser. Dad trat einen Job in einem aufstrebenden IT-Unternehmen in Burlington an. Der schickte ihn oft für Tage, wenn nicht Wochen auf Seminare, die er halten musste, um neue und alte Mitarbeiter über die neuesten Entwicklungen und die notwendige Sicherheit zu unterrichten. Oder notwendige Entwicklung und neueste Sicherheit … Oder so ähnlich. Und wenn er diese Seminare nicht hielt, war er nicht selten tagelang fort, um sich selbst fortzubilden. Aber es gefiel ihm, er reiste gerne, auch wenn er uns dann stets vermisste – und wir ihn.
  Unser Familienleben änderte sich und ich musste mein Schneckenhaus irgendwann gezwungenermaßen wieder verlassen. Was weder Peter noch ich geglaubt hätten: Wir gewöhnten uns daran, besonders ich, nachdem ich nach und nach zuließ, dass mich dieses neue Leben auch innerlich ‚erreichte‘. Peter fand sehr schnell zahlreiche neue Freunde und ich fand Helen. Helen und Mitschüler, die mich in Ruhe ließen, weil ich ihnen schlicht egal war. Zumindest schienen sie mich weder sonderlich zu mögen, noch nicht zu mögen. Sie registrierten mich, zwei oder drei fragten mich irgendwann nach meinem Leben in Boston und ob ich ihnen die Mathehausaufgaben erklären könne – und gingen zu meiner Erleichterung wieder ihren gewohnten Beschäftigungen mit ihren gewohnten Freunden nach, als sie feststellten (und allen weitererzählten), dass ich es ebenso wenig wie sie konnte. Wir kamen miteinander klar und ich war aus dem Schneider, weil aus ihrem Fokus gerückt.
  Helen war egal, dass ich Mathe abgrundtief hasste, denn sie hasste es ebenfalls. Ihr war es sogar egal, dass meine Mum an unserer Schule unterrichtete, denn ihr Dad unterrichtete ebenfalls, wenn auch an der Milton High. Naturwissenschaften. Sie entpuppte sich innerhalb weniger Tage als Seelenverwandte, weil sie Leidensgenossin und wie ich ein bisschen eine Einzelgängerin war. Eine vorlaute zwar, die weitaus mehr Chuzpe als ich besaß, aber eine Einzelgängerin. Vier Monate später schworen wir uns kindlich-feierlich ewige und beste Freundschaft und waren von da an gemeinsam Einzelgängerinnen, sie vorlaut, ich nicht.

  Ich war noch vierzehn, als mein Teenagerdasein einen weiteren tiefen Schnitt verkraften musste: Dad starb unerwartet an einer schweren Blutung im Gehirn. Kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag teilte Mum uns ihren Entschluss mit, nicht wieder zurückgehen, sondern hierbleiben zu wollen. Ich war lange nicht sicher, ob dies ein Trost sein würde, doch so war es. Nicht wieder aus einem Leben herausgerissen zu werden, sondern hierzubleiben, wo die Erinnerungen an ihn lebendig waren, milderte den Verlust ein wenig. Ironie des Schicksals war lediglich, dass wir uns immer über Mums stets etwas labile Gesundheit gesorgt hatten.

  Ich war sechzehn, als Peter nach Burlington zog, um dort zu studieren, und es dauerte weitere zwei Jahre, bis Mum zum ersten Mal mit einem anderen Mann ausging. Mit jemandem aus Fairfax natürlich, er war hier geboren und arbeitete an meiner High School: Jack, Helens alleinerziehender Dad.
  Helen und ich waren deshalb zwei Wochen lang ... okay, nicht eben sprachlos, wohl aber einigermaßen ratlos, dann erkannten wir, dass die beiden miteinander glücklich werden könnten. Also beschlossen wir, abzuwarten. Für mich persönlich tat sich eine weitere, verheißungsvolle Perspektive auf: Obwohl Mum in Boston besser verdient hatte, würde sie nicht mehr im Traum daran denken, noch einmal dort leben zu wollen.
  Ich war glücklich, denn ich hatte das Leben dort schon fast vergessen und mein Herz an Fairfax, an Vermont, an die Natur, an die Stille und an die Menschen hier verloren. Und ich wusste, ich würde alles dafür tun, um nicht wieder von hier fortgehen zu müssen!
  ...
  Ich war achtzehn Jahre und drei Monate alt, als mein Leben ein weiteres Mal aus dem Gleichgewicht geriet, meine Welt erneut erschüttert wurde, diesmal fundamental und bis in mein tiefstes Innerstes! Kapitel 1

 


   Fairfax
   Freitag, Mitte Oktober

 

  Es hatte den ganzen Vormittag lang genieselt. Erst als ihr Sarg zum Grab getragen wurde, verzogen sich die Wolken und als er nur wenige Minuten später hinabgesenkt wurde, riss der Himmel über uns jäh auf. Die Sonne tauchte alles in ein zu helles, zu warmes, viel zu freundliches Licht, das die vielen Blumen, das Gras, die buntbelaubten Bäume aufleuchten ließ. Geblendet von den Farben und der plötzlichen Helligkeit und schlagartig herausgerissen aus dem Gefühl der Unwirklichkeit blinzelte ich und fühlte prompt Peters Hand in meiner.
  „Ich bin okay“, flüsterte ich, um ihn zu beruhigen.
  Er räusperte sich. „Schon klar. Wir stehen das durch, Hope“, flüsterte er mit belegter Stimme zurück.
  Praktisch die ganze Schule war auf dem Friedhof versammelt und offenbar auch die Hälfte aller Einwohner von Fairfax. Kein Wunder, Mum hatte sicher schon einige ihrer Kinder unterrichtet! Eine höfliche Abschiedsgeste für eine beliebte Lehrerin.
  Das viele Schwarz um uns herum ergab jetzt in der hellen Sonne jedoch einen be- und erdrückenden Kontrast, erst recht zu dem blendenden Weiß der Lilien und tiefroten Rosen direkt vor uns, die wir für ihren Kranz ausgesucht hatten. Peter hatte sich geweigert, ihn selbst niederzulegen, und daher hatte ich das Bestattungsunternehmen gebeten, dies für uns zu tun. Zuletzt war es Helens Dad Jack, der es übernahm.
  Der Pfarrer sprach ein Gebet, aber ich hörte seine Worte nicht einmal. Wie schon bei Dads Beerdigung starrte ich unablässig und schweigend in das rechteckige Loch in der Erde und auf die schwarzbraune Kiste. Ich ließ mich widerstandslos von Peter an das offene Grab ziehen, warf mechanisch meine langstielige Rose hinein und sah blicklos zu, wie Peter erst seine dazu warf, dann eine kleine Schaufel Erde folgen ließ und – nach einigem Zögern – etwas aus der Innentasche seiner Jacke zog. Für zwei, drei Sekunden wurde ich erneut an die Oberfläche gerissen, denn er ließ einen kleinen, weißen Briefumschlag hineinsegeln, der fast exakt auf den Stielen unserer Blumen landete. Noch ein Kontrast, der vor meinen Augen verschwamm.
  Nach einem erneuten Blinzeln wurde mein Blick wieder klar. Helen war herangetreten, warf einen kleinen Blumenstrauß hinunter, umarmte mich rasch und gab den Weg für ihren Dad frei, der sich wortlos über die Augen fuhr, einen Strauß roter Rosen folgen ließ und ungeschickt und zögerlich erst mich umarmte und dann, wesentlich entschlossener und fester, auch Peter.
  „Ich bin für euch da, okay? Wann immer ihr etwas braucht.“
  „Danke“, hörte ich Peter dumpf antworten. „Danke für deine Hilfe, Jack.“
  Irgendwo in meinem Hinterkopf schwirrte daraufhin kurz die Erinnerung daran, dass Jack auch den anschließenden Empfang der Trauergäste organisiert hatte. Die ersten Anwesenden verliefen sich bereits, als ich daraufhin wieder aufsah. Nur eine Gruppe Bekannter in der Nähe – unsere nächsten Nachbarn, Mums und Dads Kollegen – standen dort, alle offensichtlich ein wenig ratlos. Jack trat auf sie zu, doch da wurde ich schon in den Wagen geschoben. Helen. Sie rutschte auf den Sitz neben mir und fasste stumm nach meiner Hand.
  Ein Blick aus dem Wagenfenster zeigte mir eine verkehrte Realität, denn es sollte noch ein ungemein sonniger Oktobertag werden, dem noch viele sonnige Oktobertage folgen würden …

 

 

 

   Samstag, 27. Dezember

 

  „Das war’s. Und jetzt … Wir müssen reden, Hope.“
Peter hatte unsere Teller in die Spülmaschine gestellt und suchte nach einem freien Platz, an dem er auch sein Glas noch würde platzieren können. Dann füllte er Reiniger ein, schloss die Tür und schaltete sie ein.
  „Worüber?“, fragte ich und verpackte die Reste unseres Weihnachtsessens in zwei Plastikdosen. Ich würde es einfrieren. Essen für zwei Sonntage; einen, wenn er herkommen und mitessen würde.
  „Worüber? Über dich!“, wandte er sich um und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Spüle. „Ich mache mir Sorgen um dich und entweder reden wir oder ich schmeiße mein Studium hin, um für dich da zu sein. Und bevor du sauer wirst, sage ich dir sofort, dass ich mehrere Gründe habe. Es gefällt mir zum einen nicht, dass du alleine hier wohnst. Weil ich sehe, dass etwas nicht stimmt, ich bin nicht blind. Wie läuft es zum Beispiel in der Schule? Wie geht es dir? Seit Mums Tod hat sich hier nicht das Geringste verändert, nicht mal ihre Sachen sind durchgesehen und aussortiert …“
  Ich wischte verärgert an der Ablage herum und schob ungeduldig meine langen, blonden Haare hinter die Ohren. Er war dicht dran. Viel zu dicht.
  „Mir geht es gut, in der Schule läuft es ebenfalls und ich habe kein Problem damit, alleine hier zu wohnen. Jack übertreibt es schon dauernd, denn er sieht jeden zweiten oder dritten Abend vorbei, obwohl ich ihm täglich über den Weg laufe und obwohl ich oft bei Helen bin oder sie bei mir. Und ich habe deshalb noch nichts von Mums Sachen durchgesehen und aussortiert, weil ich damit warten wollte, bis du über Weihnachten hier bist. Du sollst dabei sein, okay? Wir können es morgen angehen, ich dachte nämlich schlicht und ergreifend, dass das etwas ist, das bis nach den Feiertagen warten könnte!“
  „Oh … Okay“, erwiderte er verlegen. Und setzte sofort energisch nach: „Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es dir nicht gut geht. Ich habe Augen im Kopf und ich glaube, dass du seit ihrem Tod noch nicht eine Träne vergossen hast. Oder irre ich mich?“
  Wütend pfefferte ich den Lappen ins Spülwasser. Er bekam ein paar Spritzer ab, wich automatisch zur Seite und gab mir so den Weg frei.
  „Willst du dich mit mir über Trauerbewältigung unterhalten? Darin hab ich Übung, immerhin ist das nicht neu. Also: Ich habe geweint, Peter! Ich tu das allerdings nicht unbedingt vor Zeugen oder auf Kommando, um meinen Bruder von meiner gesunden Trauerarbeit zu überzeugen. Zufrieden?
  Da wir jedoch einmal bei diesem Thema sind: Wie sieht es denn diesbezüglich bei dir aus? Du warst noch nicht einmal an ihrem Grab!“
  Er schnaubte aufgebracht. Dann seufzte er und fuhr sich mit den Fingern durch die dunkelbraunen Haare. Gott, er sah wie Dad aus, gleichgültig, welchen Gesichtsausdruck er zeigte! Er hatte die gleichen braunen Augen, die gleichen Haare, den gleichen Haaransatz, seine Nase, seine Gesichtskonturen und inzwischen auch seine sportliche Statur. Er joggte und trainierte seit über einem Jahr mit Hanteln. Zu mehr reiche seine Zeit nicht.
  „Weil ich nicht viel mit Gräbern anfangen kann. Aber ich war da. Unmittelbar bevor ich nach Hause kam. Ich hab nur versäumt, ihnen Blumen mitzubringen.“
  Seine Stimme klang mit einem Mal beschwichtigend. Ich ließ das Wasser aus dem Becken und schloss die Augen einen Augenblick. Dann sah ich wieder auf.
  „Entschuldige. Auch wenn ich regelmäßig hingehe, weiß ich, dass es darauf nicht ankommt, Peter.“
  „Schon gut. Glaub mir, ich denke jeden Tag an sie.“
  „Ich weiß. Mein Vorwurf war … Es tut mir leid.“
  „Schon okay“, seufzte er erneut. Dann stöhnte er leise. „Hope, es gefällt mir nicht, dass du hier total alleine lebst! Und es ist dabei unerheblich, ob du zurechtkommst. Ein Mädchen in deinem Alter sollte nicht …“
  „Frau“, fauchte ich sofort wieder.
  „Was?“
  „Ich bin kein Kind mehr, also behandle mich auch nicht so, verdammt! Ich bin fast so alt wie du, als du nach Burlington gingst! Wo bitte ist der Unterschied, hm? Ich bin alt genug, selbständig, komme zurecht, kann auf diese Weise hier die Schule beenden und mit ein bisschen Glück …“ Ich stockte.
  „Mit ein bisschen Glück was?“, hakte er nach. „Was kommt nach der Schule? Wie sehen deine Pläne aus? Dein Collegefonds ist unangetastet und du hättest die Möglichkeit, ebenfalls nach Burlington zu kommen. Es mag nur eine gute halbe Stunde von hier aus sein, aber wir wären dann wieder näher zusammen.“
  „Und was, wenn ich das nicht will?“, widersprach ich verärgert und verschränkte jetzt ebenfalls die Arme vor der Brust. „Mein Leben hier gefällt mir zufällig!“
  „Echt, Hope, verstehst du mich tatsächlich nicht oder willst du mich mit Absicht missverstehen? Ich will nur wissen, wie deine Pläne aussehen, ich rede dir nicht hinein!“
  „Doch, das tust du!“, konterte ich. „Pausenlos! Ich werde hier nicht weggehen, aber ich weiß auch noch nicht, ob ich aufs College gehen will. Vermutlich schon, aber ich hab noch ein paar Wochen, bis ich mich endgültig entscheiden muss. Und ich will, dass du dich raushältst. Du sollst weder wegen mir die Uni sausen lassen, noch ständig hin und her pendeln oder sogar wieder herziehen. Du hast dich abgenabelt, also gestehe mir das auch zu; ich komme klar, behandle mich nicht wie eine arme Irre!“
  Er blies langsam den Atem durch die Nase aus und seine Miene zeigte, wie verletzt er war. Aber meine Worte waren ausgesprochen, ich konnte sie nicht wieder zurücknehmen.
  Ich konnte mich nur entschuldigen.
  „Okay, tut mir leid! Tut mir wirklich leid, ich hab es nicht so gemeint. Aber ich hab mein Leben im Griff, Peter, ich brauche keinen Helikopter-Bruder. Ich weiß genau, dass wir nur noch uns haben und ich freue mich, wenn du hin und wieder ein Wochenende hier verbringst. Öfter als früher. Aber dabei sollte es auch bleiben, denn es geht nicht nur um mich und mein Leben. Ich hatte in letzter Zeit nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, aber ich werde einen Entschluss fassen. Rechtzeitig.“
  „Wirklich?“, murmelte er und schüttelte den Kopf. „Hope, du bist in den letzten acht, neun Wochen … Ich kenne dich kaum wieder! Du warst schon immer hin und wieder mal still und in dich gekehrt, aber jetzt … Ich hab mit Helen telefoniert und sie sagte mir, dass du kaum mehr etwas isst und auch wenn deine schulischen Leistungen offenbar nicht wirklich gesunken sind, bist du doch oft total abwesend.“
Ich würde ein Wörtchen mit meiner auskunftsfreudigen, besten Freundin reden müssen!
  „Auch da kann ich dich beruhigen, denn es dürfte dir nicht entgangen sein, dass ich den Löwenanteil von deinem Braten verputzt habe! Offenbar hast du Dads Kochkünste geerbt. Und deinen Nachtisch hab ich ebenfalls zur Hälfte aufgefuttert, oder?“
  „Offenbar wirst du mir auf jede meiner Sorgen irgendeine Ausrede bringen, oder?“, versetze er jedoch nur.
  „Keine Ausreden, entkräftende Argumente. Wieso begreift niemand, dass auch so was wie wenig essen und geistig hin und wieder abwesend sein zum Trauern dazugehört? Ich schlafwandle schließlich nicht beständig durch den Tag!“, schnaubte ich ein weiteres Mal, griff zu der Handcreme neben der Spüle, massierte etwas davon mit wütenden Bewegungen in meine Hände und warf dann einen Blick auf die Uhr.
  „Das habe ich auch nicht behauptet.“
  „So kam es aber rüber! Was immer Helen dir erzählt hat, sie hat garantiert übertrieben! Du kennst sie oder solltest sie zumindest kennen. Und jetzt hab ich genug davon, ich mach jetzt einen Spaziergang. Zum Friedhof. Willst du mitkommen?“
  Er hob die Augenbrauen.
  „Jetzt? Du brauchst bei dem Schnee sicher eine Stunde bis dahin! Oder gehst du mir nur wieder aus dem Weg?“
  „Dann hätte ich dich nicht gefragt, ob du mitkommen willst! Und eine Stunde ist kompletter Unsinn, aber selbst wenn: Das ist so bei einem Spaziergang, Peter. Man nimmt sich Zeit und legt eine gewisse Strecke zurück. Es reicht nicht, fünf Minuten lang ums Haus zu schleichen oder nur mal zum Briefkasten zu gehen. Wenn ich es also recht bedenke, wäre es durchaus möglich, dass ich länger brauche. Ich muss nämlich mal an die frische Luft.“
  „Es wird dunkel sein, bevor du wieder zurück… Okay, vergiss es, du bist alt genug!“
  „Gut erkannt!“, knurrte ich im Hinausgehen, zog in der Diele meine warmen Stiefel an und angelte nach Mütze und Schal. Er folgte mir, aber erst als ich den Reißverschluss meiner Jacke zuzog, bemerkte ich sein besorgtes Gesicht. Und mir ging auf, dass es keine übertriebene Sorge war und ich überempfindlich reagiert hatte.
  „Also schön: Ich hab mein Handy dabei. Ich rufe an, dann kannst du mich mit dem Auto abholen. Der Hinweg wird ausreichen, um Luft zu schnappen und den Kopf freizukriegen.“
  Sein Seufzer der Erleichterung, den er nicht wirklich unterdrücken konnte, ließ mich ebenfalls seufzen und dann schief und nicht sehr glücklich lächelnd den Kopf schütteln. „Hört das jemals auf?“
  „Vermutlich nicht! Ich werde dich noch verhätscheln, wenn du siebzig bist.“
  Das war ein Wink mit der weißen Fahne und ich ging darauf ein, froh, der Diskussion noch einmal entkommen zu sein.
  „Und ich werde dir deshalb noch genauso lange an die Gurgel gehen! Nur, dass du dann schon über siebzig bist, Blödmann!“
  Er lachte leise und öffnete für mich die Haustür.
  „Ich mag dich auch! Ich fahr auf dem Hinweg noch tanken, ich hab gesehen, dass der Tank fast leer ist.“
  „Wenn du heute eine offene Tankstelle findest …“, zuckte ich die Schultern. „Bis später. Willst du wirklich nicht mitkommen?“
  „Nein, lass mal. Ich geh die liegengebliebene Post noch durch und hol schon mal ein paar Kartons vom Dachboden.“
  Ich hielt kurz den Atem an. Mums Sachen. Es war so weit, ich würde nach meiner eigenen Bemerkung keinen Rückzieher mehr machen können. Also atmete ich leise wieder aus und nickte.
  „Geht klar.“
  „Bis nachher. Sag ihnen, dass ich sie vermisse und bald noch mal vorbeisehe.“
  Ich nickte nur ein weiteres Mal und wandte mich ab. Der Schnee knirschte unter meinen Füßen und ich zog den dicken Schal über Mund und Nase, um gegen den kalten Wind geschützt zu sein.
  Es hatte offenbar zwei Monate gedauert, um meinen Blick für die Realität wieder zu schärfen. Und es hatte Helens bereitwilliger Auskünfte und Peters Besuch in den Ferien bedurft. Ich hatte eine Menge nachzuholen und auszubügeln!

  Ein älteres Ehepaar verließ Arm in Arm den Friedhof, als ich ihn betrat. Außer mir konnte ich anschließend nur noch ein offenbar junges Pärchen sehen, das nach einem Blick in meine Richtung abschwenkte. Es stapfte scheinbar suchend durch die hinteren Reihen und machte überall nur kurz Halt, um die Inschriften zu lesen, bevor es sofort weiterging. Ansonsten war das Gelände menschenleer.
  Ich kümmerte mich nicht weiter darum und marschierte zielstrebig zuerst zu Dads Grab, das näher am Eingang lag.
  Der Wind hatte hier auf der freien Fläche noch einmal aufgefrischt und ich war daher froh, als ich vor seinem Grabstein in die Hocke gehen konnte, beide Hände tief in die Jackentaschen vergraben. Dann aber befreite ich eine und zog so lange an meinem Schal, bis mein Gesicht zu sehen war.
  „Hi Dad. Frohe Weihnachten, auch wenn es ein bisschen spät kommt. Tut mir leid, dass ich ein paar Tage nicht hier war, aber Peter hält mich irgendwie ständig auf Trab. Er hat es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, mich nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Und weißt du was? Er wird immer mehr wie du! Fass das bitte als Kompliment auf, ja? Ihm kann ich so was nicht sagen, er bildet sich dann am Ende was darauf ein und das würde sein gluckenhaftes Gehabe nur noch schlimmer machen.
  Er hat Mums Anhänger zu einem Juwelier gebracht, um ihn ein wenig reinigen zu lassen. Für mich, zu Weihnachten. Er hat erzählt, dass der richtig angetan war davon. Offenbar ein echt antikes Teil und kunstvolle Handarbeit. Er hat ihm geraten, mit diesem Wunsch lieber zu einem Fachmann für antiken Schmuck zu gehen, er wollte es ihm sogar abkaufen.
  Ich weiß, ich sollte nicht mal darüber nachdenken, aber falls es in der Schule noch weiter abwärts geht mit meinen Noten, kann ich das College vergessen. Wenn aber nicht, muss ich ihn unter Umständen verkaufen, um es mir leisten zu können. Ich werde kaum wie Peter etwas nebenher verdienen können, anders als er werde ich die Ferien zum Lernen brauchen. Du und ich, wir wissen, dass ich schon immer mies war und meine Punktezahl …
  Lassen wir das. Peter weiß nichts davon und dabei soll es bleiben, er macht sich auch so schon zu viele Gedanken um mich. Und mit Mum kann ich irgendwie nicht darüber reden. Immer noch nicht, vermutlich brauche ich noch eine Weile.
  ...
  Dad, seid ihr beide irgendwo da draußen zusammen? Ich hoffe es! Ich hoffe es so sehr! Aber wenn, dann sag ihr nichts, ja? Ich schaff das schon, das verspreche ich, ich werde mich ab sofort wieder zusammenreißen.“
  Eine Windbö ließ mich trotz der dicken Jacke schaudern, dann sah ich auf und bemerkte, dass das Pärchen sich noch immer suchend durch die Reihen bewegte, mittlerweile aber schon deutlich näher gerückt war. Sie schienen sich im Zickzack über das eingezäunte Gelände zu bewegen, auch wenn ich es ein wenig seltsam fand, dass sie offenbar am äußersten, hintersten Ende zu suchen angefangen hatten.
  Ich warf einen letzten Blick auf sein Grab und erhob mich, den Schal wieder nach oben ziehend, um meine kalte Nase zu wärmen.
   „Okay, ich gehe jetzt mal zu Mum. Ich soll dich von Peter grüßen und sagen, dass er in den nächsten Tagen nochmal vorbeikommt. Und ich auch. Bis dann also … Ich hab dich lieb.“
  Beide Hände in die Taschen versenkt ging ich langsam weiter. Mums Grab lag mehrere Reihen weiter und viel dichter am Zaun und obwohl die dicke Schneeschicht auch hier alles sehr einheitlich machte, ging ich zielstrebig davor in die Hocke. Und schluckte krampfhaft.
  „Hi Mum … Ich weiß, ich war lange nicht hier, aber es war so viel zu tun“, flüsterte ich heiser. „Peter ist hier in Fairfax, aber das weißt du sicher schon. Er hat gesagt, dass er schon hier war … Mum, ich vermiss dich so! Das Haus ist ohne dich so leer und immer, wenn ich aus der Schule nach Hause komme … Die Wochenenden ohne Peter sind besonders schlimm und wenn Helen nicht wäre …
  Jack kommt auch oft, aber er macht es mit seiner Art nur noch schlimmer statt besser, er scheint noch weniger klarzukommen damit, dass du nicht mehr da bist. Er weiß vor allem nicht, wie er mit mir umgehen soll.“
  Ich stockte und wischte schnell die Tränen aus meinem Gesicht, die bei diesen Temperaturen schnell eine eisige Spur auf der Haut hinterlassen würden. Dann schniefte ich und starrte nur wortlos auf die Inschrift vor mir. E. M. Taylor. E für Elaine, M für Mary. Ihre Vornamen hatten wir auf ihren im Testament festgehaltenen Wunsch hin nicht ausschreiben lassen, ihren Geburtsnamen Porter aus dem gleichen Grund weggelassen. Weder Peter noch ich hatten uns sonderlich Gedanken darüber gemacht, aber gerade in den letzten drei, vier Wochen kam mir hin und wieder die Überlegung, dass so mancher Wunsch in ihrem Testament ein wenig sonderbar war.
  „Ich trage jetzt deinen Anhänger. Diesen Schnörkeligen, du weißt schon. Wusstest du, dass er aus Bronze ist? Okay, bestimmt wusstest du das. Ich finde ihn zwar immer noch ein bisschen zu groß und zu auffällig, aber … er ist ein Andenken an dich, das dir wichtig war und Peter wollte ihn eigens reinigen lassen. Ich werde ihn schon alleine deshalb jetzt öfter tragen, versprochen“, fuhr ich fort.
  Der Anhänger war ebenfalls erwähnt worden in ihrem letzten Willen, wenn auch erst ganz am Ende. Sie wolle, dass ich ihn bekomme. Mehr nicht. Ein einziger Satz, der wie abgehackt wirkte und als ob er eigentlich auf eine Ergänzung warten würde. Und mein Gewissen schlug nur noch mehr angesichts der Tatsache, dass offenbar nur ich nicht zu würdigen wusste, was eine solche Erinnerung bedeutete. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verkaufen, und jetzt ließ Peter mich wissen, dass der Juwelier einiges für den kunstvollen Anhänger habe zahlen wollen. Für Mums Anhänger!
  Das Gewicht um meinen Hals nahm zu, je länger ich darüber nachdachte und ich fasste automatisch mit der flachen Hand an die Gegend meines Brustbeins …
  Knirschende Schritte kamen langsam näher, verhielten, kamen noch ein wenig näher, blieben irgendwo hinter mir stehen und ich widerstand nur mit Mühe der Versuchung, mich umzudrehen. Ich fühlte mich gestört und schob unwillig meine Finger wieder in meine Jackentasche, aber da hörte ich auch schon, dass sie weitergingen.
  Offenbar hatte ich den Atem angehalten, denn erst jetzt stieß ich ihn wieder aus. Gleichzeitig machte ich mir klar, dass sie hier anscheinend tatsächlich lediglich jemanden suchten. Vermutlich aus den gleichen Gründen, aus denen auch ich hier war, nur dass ich wusste, wo ich sie finden konnte.
  Meine Gedanken schweiften jedoch gleich wieder ab, als erste Flocken herabrieselten und mir von einer weiteren Böe ins Gesicht getrieben wurden. Ein Blick zum Himmel zeigte mir, dass die dunklen Wolken wohl auf dem Weg hierher waren und noch weitaus mehr Schnee mitbringen könnten, wenn sie nicht schleunigst weiterwandern würden.
  „Okay, das heute wird wohl nur ein kurzer Besuch, Mum. Peter will mich abholen und ich soll dich grüßen. Er wird dich auch bald noch einmal besuchen. Vielleicht komme ich dann mit, ansonsten werde ich später noch einmal herkommen. Sei mir nicht böse, aber das da oben scheint ungemütlich zu werden …
  Ich hab dich lieb, Mum! Ich hoffe, das weißt du“, flüsterte ich, aber die beiden Besucher waren längst zu weit weg, um mich noch zu hören. Dennoch warf ich ihnen einen kurzen Blick hinterher, als ich mein Handy aus der Hosentasche zog. Es war tatsächlich ein Pärchen, aber nur die fast einen Kopf kleinere Frau drehte mir im Moment ihr Profil zu. Sie hatte kurze, pechschwarze Haare und schien nicht im Geringsten zu frieren, denn abgesehen von einer dicken dunkelroten Jacke trugen weder sie noch ihr ebenso dunkelhaariger Freund Mütze oder Schal und ihre Kapuzen hatten sie ebenfalls beide vom Kopf geschoben.
  „Ja?“, riss Peter mich aus meiner Betrachtung und ich wandte mich schnell und peinlich berührt um.
  „Hi. Wenn du willst, kannst du mich abholen. Es scheint noch mehr Schnee zu geben, ich komme dir also entgegen, um nicht einzuschneien.“
  „Ich werde dich schon finden, ansonsten grabe ich dich aus. Halt unterwegs einfach einen Arm in die Luft. Ich beeile mich.“
  „Lass das, ja? Lass dir Zeit, die Straßen könnten glatt sein.“
  „Wer übertreibt es jetzt? Ich bin schon vorsichtig, ich meine damit nur, dass ich das Tanken auf morgen verschiebe. Bis gleich.“
  „Okay, bis später“, grummelte ich und beendete das Gespräch. Dann schob ich schleunigst beide Hände wieder tief in die Taschen und lief zum Ausgang, um schneller wieder warm zu werden. Er würde mich vermutlich schon aufgabeln, bevor ich die Brücke erreicht haben würde.
  Ich wusste nicht, weshalb ich mich an der Einzäunung angekommen noch einmal umdrehte, aber ich warf ohne darüber nachzudenken einen suchenden Blick zurück – und kniff die Augen zusammen in dem Bemühen, genauer zu erkennen, wo die beiden jetzt standen. Die Flocken fielen dichter und ich war mir alles andere als sicher, aber ich glaubte zu sehen, dass sie in die Reihe zurückgekehrt waren, in der Mums Grab lag. Und dass sie jetzt, genau in diesem Augenblick, davor Halt machten. Die Frau beugte sich ein wenig vor, doch der Mann in dem dunkelgrauen Anorak schüttelte den Kopf. Und dann drehte er ihn, sodass er mir direkt in die Augen sah.
  Offenbar ging meine Fantasie mit mir durch: Niemand konnte einem anderen quer über einen Friedhof hinweg in die Augen sehen! Kopfschüttelnd wandte ich mich ab und marschierte davon. Instinktiv hatte ich umdrehen wollen, um nachzusehen, ob sie tatsächlich an Mums Grab standen, aber ich fühlte mich ertappt. Und schließlich: Wenn sie wirklich jemanden suchten, mich aber nicht hatten stören wollen …
  Sie hätten mich fragen können, schoss mir durch den Kopf. Andererseits aber konnten sie sich denken, dass ich wohl kaum die Namen aller dort Bestatteten kannte.
  Ich verlangsamte und versuchte, durch die kahlen Äste der Büsche hindurch etwas zu erkennen. Als ich endlich eine hinreichend große Lücke fand, sah ich, dass sie ihre Suche entweder aufgegeben hatten oder woanders wieder aufzunehmen gedachten und mir keine Aufmerksamkeit mehr schenkten.
  Ich war für sie nur eine trauernde Angehörige. Und sie waren ganz einfach nur zwei Menschen, die hierhergekommen waren, um einen ihrer Angehörigen oder einen Freund zu finden, mehr nicht.
  Der Wind wurde stärker und trieb die Flocken in dichten Schwaden vor sich her; entsprechend froh war ich, wenig später in das Innere des schon angenehm warmen SUV steigen zu können!

 


  Sonntag, 28. Dezember

 

  Die Kartons und Säcke mit Mums Kleidung stapelten sich am nächsten Tag in der Diele, darunter auch die Sachen, die sie auf dem Dachboden aufbewahrt hatte. Sie hatte immer die unerschütterliche Ansicht vertreten, dass alles irgendwann wieder einmal modern und gebraucht werden würde. Womit sie zumindest zum Teil recht behalten hatte.
  Irgendwann am Nachmittag waren dann auch die letzten Schachteln vom Dachboden nach unten geholt, durchgesehen, ihre Märchenbuchsammlung nach oben getragen und auch ihre Kleiderschränke geleert. Blieb nur noch ihre zuletzt als Nachtschränkchen genutzte Kommode. Ich ging vor ihr auf die Knie, zögerte jedoch, die Schubladen aufzuziehen.
  „Ich werde morgen damit beginnen, die Schlafzimmermöbel abzubauen. Jack kommt nachmittags mit dem Anhänger vorbei und hilft mir, sie einzuladen und wegzuschaffen. Wenn du einverstanden bist“, hörte ich Peter wieder hereinkommen.
  „Natürlich“, murmelte ich mechanisch, dann aber sah ich auf. „Die Kommode möchte ich behalten. Und das kleine Regal auch. Der Rest … ist okay.“
  „Klar! Willst du sie in deinem Zimmer stehen haben?“
  „Ich weiß noch nicht. Wird ein bisschen eng da drin werden, fürchte ich, ich muss erst mein Regal umstellen. Kann beides erst mal hier stehen bleiben? Ich würde gerne ein paar Sachen von ihr da drin aufbewahren, die ich behalten möchte.“
  Das Bett knarzte leise, als er sich darauf niederließ. Ich hatte es längst abgeräumt und die leeren Matratzen wirkten kalt und … leer.
  „Hope?“
  „Ist schon okay, echt. Es fällt mir nicht leicht, aber das hier ist nicht das, was Mum ausgemacht hat. Es geht also“, sah ich zu ihm hoch, ihm bewusst erneut verschweigend, wie weh es in Wahrheit tat, ihre letzten Dinge aus dem Haus verschwinden zu sehen. Abgesehen von gerahmten Bildern, den Familienfotos, Büchern im Wohnzimmer unten und den sonstigen Andenken, die sie in rund zehn dicken Alben eingeklebt aufbewahrt hatte.
  Er nickte ernst. „Okay. ... Weißt du eigentlich, dass du längst genau wie sie aussiehst? Du könntest eher ihre kleine Schwester sein als meine!“
  „Und du siehst genau wie Dads kleiner Bruder aus!“, grinste ich schief. Dann zog ich entschlossen die oberste Schublade auf …
  „Das Buch, in dem sie zuletzt gelesen hat? Gott, ein Wunder, dass es nicht von höherer Mathematik handelt! Anscheinend noch eins von diesen alten, zerlesenen Märchenbüchern“, blätterte ich kurz und reichte es ihm dann.
  „Hm ... Nein, eher nicht. Da ist kein ‚Es war einmal‘, das scheinen Sagen oder Legenden oder so zu sein“, betrachtete er die ersten Seiten und schlug es dann wieder zu.
  Ich zog ein weiteres Buch von ganz hinten hervor – und erstarrte.
  „Was ist?“
  „Das ist ein Tagebuch! Mum hat Tagebuch geführt!“, hauchte ich.
  Neben mir erstarb für einen Moment jedes Geräusch, dann rückte er näher. „Das wusste ich nicht.“
  „Das wusste niemand, denke ich. Na ja, Dad vielleicht schon“, gab ich zurück und griff noch etwas tiefer in die Schublade hinein. Zwei weitere mit jeweils sehr ähnlichem Einband kamen zum Vorschein, ansonsten war sie bis auf ein wenig Schmuck in einer kleinen Kassette und ein paar persönliche Kleinigkeiten leer.
  „Das sind echte Ledereinbände. Sehen teuer aus. Und sie haben kleine Schlösser!“, meinte er und nahm mir eines davon aus der Hand. „Ist da kein Schlüssel?“
  Ich beugte mich vor und tastete sogar in den Ecken nach, dann schüttelte ich den Kopf. „Nein, nichts. Aber ich würde sie sowieso nicht lesen, das da sind ihre geheimsten Gedanken!“
  Ich sah wieder zu ihm hoch. Seine Miene wirkte unschlüssig und er drehte es noch ein-, zweimal in den Händen, dann reichte er es mir nickend zurück.
  „Du hast recht. Aber vielleicht überlegen wir es uns irgendwann anders, du solltest sie unbedingt aufbewahren, Hope.“
  „Das habe ich vor! Ich leg sie zurück. Gib mir auch das Buch … Danke.“
  Die zweite Schublade enthielt Briefe. Dads Handschrift. Briefe von Dad an sie, aber wider Erwarten nicht sortiert oder gebündelt, sondern alle wild durcheinander. Eigenartig angesichts Mums Ordnungsliebe. Erneut starrten wir uns schweigend an, dann erhob er sich, verschwand nach unten und kehrte wenig später mit einer Schachtel zurück. Sie erwies sich als gerade groß genug, alle Briefe aufzunehmen. Ich musste sie ein wenig zusammendrücken, dann aber hielt der Deckel.
  „Aufbewahren?“
  Ich nickte und reichte sie ihm zurück.
  Dritte und unterste Schublade. Und hier sog ich hörbar die Luft ein.
  Bilder! Haufenweise Bilder unterschiedlichster Größe! Handgemalt, teils Bleistiftzeichnungen, teils bunt wie mit Aquarellfarben gezeichnet, alle offenbar irgendwie unfertig. Hier und da schaute ein Foto von Dad, Peter oder mir dazwischen hervor. Und wieder alles kunterbunt und kreuz und quer durcheinandergewürfelt.

...

 

Ende der Leseprobe

 

Band 5, der Abschluss der Aroda-Reihe, führt noch weiter zurück, diesmal bis in eine altertümliche Zeit. Marahn, Inanas Großvater, hat den Weg nach Aroda geöffnet und den Magiebegabten aller Völker der Erde so die Möglichkeit geschaffen, zu überleben und ihr kostbares Wissen und Können zu bewahren. Was er nicht vermochte, ist, den Hass auf die Menschen und die Rachegefühle auszusperren. Ausgerechnet seine Enkelin Inana muss dies schmerzhaft lernen. Arodas Grundsteine bröckeln, kaum dass sie gelegt sind?!

 

Im Buchregal (siehe oben) ist mehr dazu zu finden. Ein spannender Ausflug in eine magische, erneut historische Welt erwartet euch!

ISBN 978-3-7543-4981-6

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