„Ein Phönixgeborener steht also vollautomatisch für das Gute? Du denkst,

die Geburt bestimmt, ob man bedrohlicher Drache ist oder guter Phönix?
Sieh mir in die Augen: Ich weiß sehr, sehr genau, dass

geburtliche Abkunft nichts bedeutet!“

 

Der Krieg gegen Dragan ist noch immer lebendig in den

Köpfen der Menschen - auch im wiederaufgebauten Born,

wo sich die ersten Drachen niedergelassen haben.

Während dort Sanara verzweifelt hofft, dass der inzwischen

fünfjährige Takar keinerlei Drachenerbe in sich trägt,

versucht Fendor, einst Dragans oberster Befehlshaber, ihren

gemeinsamen Sohn zumindest von fern im Auge zu behalten.

Cam - Camryn - und Jared ihrerseits tun als Phönixe alles,

um Phandras Wunden zu heilen. Doch bei Sanara beißt

auch Cam auf Granit, spätestens nachdem sie von Fendors

Vaterschaft erfahren hat und dennoch Vertrauen zu diesem fasst.

 

Was hat es ausgerechnet in diesen Zeiten mit dem leeren

Amulett auf sich, das Abram, nun der älteste Phönix, in einer

verborgenen Höhle voller Wandmalereien findet?

Weshalb reagiert dieses insbesondere auf Fendor und Takar? Und was

bedeuten die dunklen Träume, denen Cam hierauf ausgesetzt ist?

 

***

 

ISBN 978-3-7557-5661-3

656 Seiten, Taschenbuch;

Format: 12 x 19cm

 

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LESEPROBE:

 

Kapitel 1

 

Sanara

 

Ich hatte lange gewartet, mich irgendwann schon zum Gehen abgewendet und nach Takar gerufen, als das gleiche, seltsame Gefühl wie damals mich schon nach wenigen Schritten wieder innehalten ließ. Den Bogen in der Hand drehte ich den Kopf Richtung Wald. Da stand er, an exakt der gleichen Stelle wie vor exakt einem Jahr. Und dem Jahr davor. Und dem Jahr davor. Und wie immer rührte er sich nicht.
Takar kam durch das hohe Gras auf mich zu und blieb wie damals dicht neben mir stehen, doch diesmal verzichtete ich darauf, einen Pfeil aus dem Köcher zu ziehen – auch wenn es mich einige Überwindung kostete.
„Mutter?“, flüsterte Takar, genau wie damals.
„Alles ist gut, bleib ganz ruhig. Und bleib hier bei mir, Takar.“
„Wer ist das?“
„Er hat schon einmal dort gestanden, erinnerst du dich?“
Ohne hinzusehen und daher nur aus dem Augenwinkel, bemerkte ich sein Kopfschütteln, dann jedoch schien er unsicher zu werden.
„Es ist ein Jahr her, also kann es gut sein, dass du es vergessen hast.“
„Nein, ich weiß es wieder. Wer ist das und wieso steht er wieder da? Warum kommt er nicht her? Ist er böse? Oder hat er Angst?“
Ich zögerte. Mir war klar, dass ich diese Fragen provoziert hatte, ganz alleine schon deshalb, weil ich ihn wieder mitgenommen hatte. Und obwohl ich ein weiteres Jahr lang Zeit gehabt hatte, mir eine Antwort auf diese und andere mögliche Fragen zu überlegen, wusste ich doch noch immer nicht, was ich sagen sollte.
„Ich glaube nicht, dass er Angst hat. Ich glaube, er ist neugierig. Was ich sicher weiß, ist, dass du keine Angst vor ihm haben musst, und das ist doch das Wichtigste, oder?“
„Wenn er neugierig ist, warum kommt er dann nicht her?“
Ein winziges Lächeln hob meinen rechten Mundwinkel und ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Kurz nur, denn ich wollte den Drachen nicht aus den Augen lassen.
„Na ja, vielleicht weil nicht jeder so neugierig ist wie du? Nicht jeder rennt gleich los, um herauszufinden, was genau seine Neugier geweckt hat.“
Mein fünfeinhalbjähriger Sohn verzog sichtlich das Gesicht. Offenbar gefiel es ihm nicht, gemaßregelt zu werden.
„Neugier ist gut, Takar, denn nur so lernst du. Aber Neugier ohne Vorsicht und ohne vorher wenigstens zu überlegen …“
„Bleiben wir jetzt hier stehen?“, fiel er mir ungeduldig ins Wort.
Ich seufzte und fixierte den Drachen, der noch immer regungslos am Waldrand stand und zu uns hersah.
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht!“, rutschte es mir heraus, bevor ich es verhindern konnte. Dann sah ich zu meinem Sohn hinunter und betrachtete stirnrunzelnd sein verwirrtes Gesicht. „Nein, wir werden gehen. Einen Augenblick nur.“
Ich zog einen Pfeil aus dem Köcher und ignorierte Takars erschrecktes Einatmen. Den Schaft mit zweien der Finger, die auch den Bogen hielten, umfassend zog ich einen kleinen, vorbereiteten Zettel aus der Tasche meiner Hose. Er war fest zusammengerollt und würde im Flug sicher nicht verlorengehen. Dennoch wickelte ich ihn sorgfältig hinter der Pfeilspitze um den Schaft, band zusätzlich das dünne Fädchen darum herum und warf einen scharfen Blick in seine Richtung. Erst dann legte ich an, spannte den Bogen und visierte als Ziel einen auffälligen Baumstamm nur wenige Schritte von ihm entfernt.
Ich verfehlte nur sehr selten mein Ziel. Und obwohl eine kleine Bewegung meinerseits genügt hätte, um selbst in letzter Sekunde die Flugbahn noch zu ändern, regte er sich nicht. Er bewegte sich nicht um einen einzigen Schritt zur Seite.
Der Faden hatte den Zettel gehalten. Und nachdem beides sein Ziel erreicht hatte, senkte ich den Bogen zufrieden wieder.
„Jetzt können wir gehen! Komm, heute Abend gibt es etwas von dem Braten, den deine Großmutter uns heute Morgen gebracht hat. Und als Nachtisch Beerenmus mit viel Süßrahm, was hältst du davon?“
„Lecker! Was war das, Mutter? Was war das für ein Zettel? Und weshalb …“
„Nur eine kleine Nachricht.“
„Wer ist dieser Mann?“
Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und beschleunigte meine Schritte, sodass er ein wenig Mühe hatte, mir zu folgen.
„Ich kenne ihn nicht. Oder besser gesagt: Wir … sind uns schon ein paar Mal begegnet, aber wirklich kennen … Nein. Und mit dieser Nachricht … Nun, ich habe ihn wissen lassen, dass ich nicht möchte, dass er uns auf diese Weise beobachtet.“
„Aber er steht doch nur da! Ist er doch gefährlich, Mutter? Du hast doch gesagt, wir müssen keine Angst haben.“
Ich verlangsamte und überlegte rasch, dann blieb ich noch einmal kurz stehen und warf einen Blick zurück. Er hatte den Pfeil aus dem Baumstamm gezogen und offenbar auch den Zettel schon gelesen.
„Und das stimmt auch. So weit kenne ich ihn nun doch! Dennoch gilt für dich, was allgemein bei allen Fremden gilt, Takar: Vorsicht! Wenn du nicht weißt, wen du vor dir hast, dann hast du Vorsicht walten zu lassen! Selbst wenn dein Verstand dir sagt, dass dein Gegenüber harmlos und vertrauenswürdig ist: Sobald dein Gefühl dir sagt, dass Achtsamkeit angeraten ist, dann hör immer auf dein Gefühl.“
„Mein Gefühl?“
„Du spürst es in deinem Bauch. Harmloses Äußeres, harmloses Gebaren und schöne Worte können trügen. Du hast einen feinen Sinn für Gut und Böse geerbt – vertrau darauf! Immer! Und jetzt komm, ich habe Hunger. Du nicht?“
Er nickte stumm und mit großen Augen, warf seinerseits noch einen Blick zurück und blieb dann dicht neben seiner Mutter. Die seltsame Wärme in seinen Händen, die er nicht erklären konnte, begleitete ihn noch eine ganze Weile und erst als sie den Waldrand nicht mehr sehen konnten, verschwand sie.

Wie alle Kinder zögerte Takar auch heute das Schlafengehen so lange wie möglich hinaus. Ich hatte diesmal nachgegeben und ihm sogar auf der Bettkante sitzend noch eine Geschichte erzählt. Natürlich von den Phönixen, von denen er nicht genug hören konnte. Erst als er eine Weitere verlangte, lehnte ich entschieden ab und beugte mich zu ihm hinunter, um ihm wie jeden Abend einen Kuss auf die Stirn zu geben.
„Schlaf jetzt, für heute ist es genug. Morgen möchte ich gemeinsam mit dir die Fallen kontrollieren, das wird anstrengend.“
„Morgen wollte ich doch zu Potar gehen, er will mir zeigen, wie man Angelköder macht.“
„Stimmt, das habe ich ganz vergessen. Wann sollst du da sein?“
„Ich soll gleich nach dem Frühmahl kommen.“
„Wenn das so ist: ein Grund mehr, jetzt zu schlafen! Gute Nacht, ich wünsche dir lichterfüllte Träume.“
„Ich dir auch. Mutter?“
„Was denn noch?“, stemmte ich gespielt ungeduldig die Hände in die Seiten.
„Du wünschst mir immer lichterfüllte Träume! Träumst du auch manchmal vom Feuer? Von hellen Flammen? Oder von den Phönixen? Wann kommen sie wieder her?“
Da war er wieder: ein leiser Stich in meiner Magengrube. Wann immer er von Feuer sprach, spürte ich ihn. Ich konnte die Träume meines Sohnes nicht einschätzen, auch wenn ich davon überzeugt war, dass bislang keiner davon bedrohlich oder beängstigend gewesen war. Doch noch jedes Mal stellte ich mir die Frage, wie das Feuer in seinen Träumen aussah. War es warm und heilend wie das der Phönixe oder dunkel und verzehrend wie das der Drachen? Er hatte Letzteres nie erlebt. War es für ihn aus diesem Grund nicht bedrohlich?
Schnell schüttelte ich diese Gedanken wieder ab. Takar war ein Kind.
„Ich weiß nicht, wann sie zurückkommen, Takar. Phandra hat nur noch wenige Phönixe, sie können nicht unentwegt hier sein. Und ja, ich träume auch manchmal davon. Deshalb wünsche ich dir ja auch jeden Abend so helle, lichterfüllte Träume, wie ich sie manchmal habe. Sie sind tröstlich wie das Feuer des Phönix, oder?“, konnte ich mir nicht verkneifen.
Er nickte jedoch nur stumm.
„Gute Nacht.“
„Gute Nacht“, drehte er sich in seinem Bett zur Wand und zog die Decke bis über seine Ohren.
Durch den langsam kleiner werdenden Spalt betrachtete ich seine schmale Gestalt noch einen Augenblick, dann zog ich die Tür endgültig ins Schloss.
Seit vor gut einem Jahr dieses Häuschen, das noch immer eher einer Hütte als einem Haus glich, fertiggestellt worden war und wir hierher umgesiedelt waren, war mir ein Teil der Last von meiner Seele genommen. Hier draußen, gerade einmal rund zehn Minuten Fußweg von Born entfernt, waren wir ungestört. Weder meine Mutter noch Großvater hatten meine Entscheidung verstanden und es war Camryn zu verdanken gewesen, dass man mir keine weiteren Steine in den Weg gelegt hatte. Ich hasste es, diesem Phönix dankbar sein zu müssen, aber ihre Einmischung und Fürsprache hatten bewirkt, dass man uns sogar mit vereinten Kräften diese Behausung … dieses Zuhause errichtet hatte. Und es hatte für einmal keiner Worte bedurft, denn Camryn hatte begriffen, wie wichtig es für mich war, unbeobachtet zu entdecken, wie das Wesen meines Sohnes sich entwickeln würde.
Jetzt stieg ich leise die Stufen der Holztreppe hinunter, warf nach einem kontrollierenden Blick noch ein letztes Scheit auf das Feuer im Herd und dann einen Blick aus dem Fenster. Es war noch eine Weile hin bis Mitternacht, doch nachdem ich mich nach einer halben Stunde versichert hatte, dass Takar fest schlief, nahm ich die Jacke vom Haken neben der Tür. Und nach kurzem Überlegen auch das Messer, dessen Scheide ich diesmal so zurechtrückte, dass es hinter meinem Rücken nicht zu sehen sein würde.
„Zeit für ein paar Fragen! Und Zeit für ein paar Regeln!“, grollte ich dumpf.

Die Mondsichel stand schmal und klar am Himmel und meine Augen hatten sich längst an das Dunkel hier draußen gewöhnt. Still beobachtete ich, wie er langsam weiterwanderte, und warf immer wieder auch einen kontrollierenden Blick hinab zu der Hütte. Von hier oben hatte ich sowohl einen guten Blick über die weiten Brachwiesen, die Born als Heuwiesen dienten, und einen Teil des Waldes als auch zu den Häusern von Born.
Born, das wiederaufgebaut worden war nach dem Höhepunkt von Dragans zerstörerischem Krieg. Born, das mir lange Heimat gewesen war, wenn auch eine trostlose. Der größte Teil der Häuser blieb hinter einem Ausläufer des Waldes verborgen und auch der sanfte, flache Hügel gleich hinter unserer Hütte versperrte mir einen Teil der Sicht, doch seltsamerweise empfand ich die sichtbare Nähe als tröstlich. Unsere Hütte lag alleine in dieser Senke, aber diese Einsamkeit bedeutete damit keine Isolation. Nah und doch entfernt.
Wieder drehte ich den Kopf in die Richtung, aus der er kommen musste. Und zum sicher zehnten Mal kontrollierte ich, ob das Messer noch an seinem Platz war. Dem Stand des Mondes und der Sterne nach war es nicht mehr lange bis Mitternacht, als ich seine Gestalt gegen den etwas helleren Hintergrund der Wiese bemerkte.
Sehr schnell trat daraufhin auch ich aus dem Schatten des mächtigen Baumes und blieb dann breitbeinig und mit verschränkten Armen mitten auf der Wiese stehen, um ihn zu erwarten.
„Das ist nahe genug! Bleib dort stehen!“, rief ich halblaut und presste die Lippen zusammen, als er erst nach weiteren vier, fünf Schritten innehielt und stehen blieb.
„Du hast mich hergebeten, schon vergessen? Ich gestehe, dass ich erstaunt war über deine Nachricht.“
„Die ich dir am liebsten noch ein wenig persönlicher hätte zukommen lassen!“, giftete ich.
„Lass mich raten: zielgenau in meine Brust.“
„Treffer!“, dehnte ich genüsslich und doppeldeutig.
„Dann darf ich dich auch daran erinnern, dass du mich letztes Jahr wie auch vorletztes und vorvor…“
„Das ist unnötig, ich weiß, was ich gesagt habe. Nötig ist etwas anderes: Regeln! Takar wird älter. Und er hat Fragen. Du kannst nicht länger plötzlich auftauchen und uns beobachten. Jedenfalls nicht, wenn er dabei ist. Bisher habe ich es gestattet, doch als ich heute hören musste, dass er sich an die letzte Begegnung dieser Art erinnerte …“
„Begegnung!“, echote er ironisch.
„Allerdings! Für einen Fünfjährigen ist er recht klug und aufgeweckt! Ich kann verstehen, dass du dir über sein Werden und Wohlergehen in regelmäßigen Abständen ein Bild verschaffen möchtest, doch ich muss sicherstellen, dass er dich dabei nicht sieht. Ich möchte nicht, dass du irgendeinen Kontakt zu ihm aufbaust, ist das klar? Wenn ich ihn vor dir schützen will, muss das aufhören!“
„Vor mir schützen? Er ist auch mein Sohn!“, grollte er.
„Denkst du, das weiß ich nicht?“, zischte ich wütend und nahm beide Hände herunter, um sie zu Fäusten zu ballen. „Glaub mir, diese ‚Begegnung‘ wird mir bis an mein Lebensende in deutlicher Erinnerung bleiben! Und jetzt darf ich dich an etwas erinnern: Du hast mir gesagt, ich soll ihn erziehen und …“
„In deinem und meinem Sinne!“, fiel er mir ins Wort. „Ich stehe zu meinem Wort, aber vergiss nicht, dass er auch mein Erbe in sich trägt! Ich werde euch nicht zu nahe kommen, aber er ist auch mein Sohn und ich muss ihn schützen können, genau wie du ihn schützt! Und dazu gehört nun einmal, dass ich … zumindest in der Nähe bin.“
Fassungslos öffnete ich den Mund und starrte zu seinem dunklen Schemen hinüber.
„Was meinst du damit, du bist in der Nähe?“
Er trat langsam zwei, drei weitere Schritte auf mich zu und verhielt wieder.
„Nicht das, was du offenbar denkst! Nicht das, was du mir gerade offensichtlich unterstellst! Du weißt nichts von mir, Sanara von Born. Ich halte mich fern und es war einem unglücklichen Umstand zu verdanken, dass du mich damals dort draußen bemerkt hast. Um Takars Willen blieb ich stehen anstatt sofort zu verschwinden, und trat lediglich deshalb gänzlich hinter dem Baum hervor, um nicht den Eindruck zu vermitteln, ich läge auf der Lauer. Ich wollte ihm keine Angst einjagen. Und ich kam nur deshalb im letzten und in diesem Jahr noch einmal derart offen her, weil du es mir erlaubt hast. Ich fühle mich an mein Wort gebunden und hätte gedacht, dies so hinreichend zu zeigen, doch offenbar habe ich mich getäuscht. Wenn ich also von ‚Nähe‘ spreche dann heißt das, dass ich innerhalb weniger Minuten hier sein könnte. Ich fühle, wenn etwas nicht stimmt.“
Ich hatte schon Luft geholt zu einer wütenden Erwiderung, stockte jetzt jedoch.
„Du spürst, wenn er in Gefahr ist?“
Offenbar nickte er. Jedenfalls glaubte ich, das zu erkennen.
„Ja“, kam es dann. „Unterschwellig, wie eine Ahnung. Auch zwischen uns ist ein Band, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Vor sieben Monaten war er ernstlich erkrankt, richtig?“
„Ja. Ein Fieber. Einer der Phönixe war glücklicherweise in der Nähe und hat ihn geheilt“, erwiderte ich gepresst. Takar hatte zwei Tage lang in hohem Fieber gelegen, bis endlich Jared gekommen war und es ihm genommen hatte. Zwei Tage später war er wieder wohlauf.
„Und als er drei Jahre alt war?“
Ich schluckte. Schon die Erinnerung daran …
„Ein Sturz. Er ist auf den Tisch geklettert, als ich nicht hinsah, und ist unglücklich heruntergefallen. Ich habe nicht aufgepasst. Nicht gut genug. Er brach sich den linken Arm und damals war kein Phönix da.“
„Kinder verletzen sich. Selbst wenn man gleich daneben stünde, nicht alles kann man verhindern. Du machst dir Vorwürfe? Es fällt dir schwer, ihn selbstständig werden zu lassen?“
„Ich muss ihn beschützen! Möglicherweise auch vor sich selbst, Drache!“, fuhr ich ihn wütend an. „Und nein: Auch wenn ich oft genug tausend Tode vor Angst sterbe, niemand weiß besser als ich, dass es besser ist, so früh wie möglich selbstständig zu werden! Er muss das üben, ich lasse ihn also klettern und ich lasse ihn rennen und schwimmen und zeige ihm den Umgang mit Pfeil und Bogen, mit Schleuder und Messer. Er muss irgendwann selbst für seine Sicherheit und seinen Unterhalt sorgen können.“
„Noch ein Grund, weshalb ich dich gewählt habe“, kam es leise.
„Gewählt!“, wurde ich noch lauter und presste meine Fingernägel in die Handflächen. „Du hast mich genötigt, gezwungen! Mit dem Tod der anderen gedroht!“
„Ich bin nicht hier, weil ich deine Verzeihung erbitten möchte! Ich habe mich bereits entschuldigt, auch wenn ich weiß, dass mich dein Hass bis an mein Lebensende verfolgen wird. Ich bin lediglich hier, weil es um das Wohl und Wehe unseres Sohnes geht, um nichts anderes. Mein Bemühen, mich fernzuhalten und mein damaliges Bemühen, dir keinen unnötigen Schmerz zuzufügen und jede Erinnerung zu nehmen …
Lassen wir das. Ich werde mich zukünftig also vor ihm zu verbergen wissen, doch ich werde immer wieder einmal herkommen, um ihn aus der Ferne zu sehen. Deinen und meinen Sohn! Und eines Tages musst du ihm ohnehin die Wahrheit erzählen, oder? Wie lange willst du damit warten? Schweigen kann auch als Lüge ausgelegt werden!“
Mein ach so schwer zu zügelndes Temperament gab mir ein, mich voller Wut und Hass auf ihn zu stürzen und ihm mein Messer bis ans Heft in die Brust zu rammen. Dort, wo vermeintlich sein Herz sitzen sollte. Es kostete mich alle Selbstbeherrschung, diesem Impuls nicht nachzugeben und stattdessen lediglich zwei weitere, eckige Schritte auf ihn zuzutreten.
„Es ist ganz alleine meine Sache, wann ich es ihm erzähle, verstanden? Es ist ganz alleine meine Sache, ihm sein mögliches – und ich betone: mögliches! – Erbe zu erklären, ist das klar? Halte dich fern von uns! Wenn es denn unbedingt sein muss, dann können wir seine Fortschritte so wie jetzt und auf diese Weise austauschen – mehr nicht! Du bist nicht mehr als derjenige, der seinen Samen in mich gelegt hat, und du wirst nie mehr als das sein! Egal, was dich damals dazu bewegt hat, mir das anzutun, es ist bedeutungslos! Komm meinem Sohn zu nahe und ich töte dich! Und das ist keine Drohung, das ist ein Versprechen! Ich werde nicht zulassen, dass aus ihm ein Drache wird.“
Bis hierher konnte ich hören, wie er tief Luft holte.
„Das ist, was ich wollte. Dennoch: Wenn er genügend von mir in sich trägt, wird auch er zum Teil wie ich sein.“
„Denkst du, das weiß ich nicht? Hast du mir gerade nicht zugehört?“, giftete ich ihn an.
„Oh! Mein Fehler, ich habe etwas falsch eingeschätzt: Ich hätte gedacht, dir wären die Unterschiede unter uns Drachengeborenen deutlich geworden. Es ist kein Versuch einer Entschuldigung meiner Taten, wenn ich sage: Dragan hat uns zu dem gemacht, was wir seinerzeit waren. Wenn wir aufgewachsen wären in unseren Familien und eine normale Kindheit gehabt hätten, wäre es nie so weit gekommen, wie es gekommen ist!
Ein Denkanstoß: Was glaubst du würde aus Takar, wenn ein Dragan dich vor seinen Augen töten und ihn verschleppen würde, um ihn zu erziehen? Nein, ich bin noch nicht fertig!“, fuhr er auf, als ich zu einer Erwiderung ansetzte. „Denk von mir, was du willst, aber verschließ deine Augen nicht davor, dass er eines Tages die Wahrheit erfahren oder erkennen wird! Irgendwann wird er es zumindest ahnen – was wird er deiner Meinung nach dann tun, sagen oder dir vorwerfen? Treibe nicht schon jetzt einen Keil zwischen dich und ihn, denn möglicherweise könntest du den entstehenden Spalt nicht mehr schließen!
Denk darüber nach, Sanara von Born. Ich kann warten! Takar auch? Wenn du reden willst, steck einfach eine Nachricht in den Stamm des Baumes am Waldrand, ich werde von nun an regelmäßig nachsehen und würde kommen. Ansonsten jedoch gilt Folgendes: Ich werde mich fernhalten, doch wenn ich irgendwann den Eindruck gewinne, dass er meine Hilfe braucht, werde ich kommen!“
„Wage es nicht!“, zischte ich.
„Es ist kein Wagnis“, hielt er im Rückwärtsgehen noch einmal inne. „Ich bin sein Vater, ob es dir gefällt oder nicht. Ich werde ihn beschützen, wenn nötig mit meinem Leben – etwas, das du eigentlich begrüßen solltest. Denk also auch darüber nach, Sanara.“
Die Hand hinter meinem Rücken schon am Heft des Messers sah ich zu, wie er sich nahezu lautlos entfernte, wie seine Gestalt immer kleiner wurde und zuletzt mit den Schatten des Waldes verschmolz. Dennoch blieb ich sicher noch minutenlang reglos stehen und starrte auf den Punkt, an dem er verschwunden war, bevor ich die verkrampften Finger wieder löste, mich umdrehte und mit großen, schnellen Schritten zurück zu unserem Haus marschierte. Wenn er mit seinem Feuer gegangen war, dann weit genug von hier entfernt, dass meine Augen es nicht hatten sehen können.

Der nächste Morgen begann schon früh, denn wie zu erwarten war Takar vor mir wach und brachte die erste Mahlzeit des Tages nur ungeduldig zappelnd hinter sich.
„Ich bin satt, Mutter. Darf ich jetzt gehen?“ Ein paar Brotkrümel flogen aus seinem Mund, als er mit vollem Mund diese Frage stellte.
Ich hob beide Augenbrauen und wartete schweigend. Er verstand, verdrehte kauend die Augen, schluckte krampfhaft, verschluckte sich prompt und hustete. Ich sah ihm einigermaßen ungerührt zu, zumindest äußerlich. Erst als sein Husten sich legte und er nach einem kräftigen Schluck aus meinem Becher wieder zu Atem gekommen war, legte sich meine Sorge, er könnte ersticken. Und erst als er seine Frage wiederholt hatte, diesmal überaus verständlich und ohne Krümel über den Tisch zu verteilen, bekam er seine Antwort:
„Bring deinen Teller und Becher zum Spülbecken, dann kannst du meinetwegen gehen. Worauf sollst du unterwegs achten, wenn du alleine gehst?“
 „Es ist doch nur das kleine Stück! Immer dasselbe!“, nörgelte er.
„Richtig, du bist ein kluger Junge. Also?“
„Ich gehe an Großmutter vorbei geradewegs zu Potar, ich mache keine Umwege und klettere nirgends herum. Ich esse nichts, was ich nicht ganz genau kenne – die Beerensträucher zwischen hier und Born sind sowieso schon abgeerntet –, ich komme vor dem Dunkelwerden zurück und ich jage keine Wildschweine!“, leierte er in einem Atemzug und mit einer übertriebenen Betonung herunter.
„Takar?!“, runzelte ich mahnend die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust.
Er stöhnte.
„Ich klettere nur dann auf einen Baum, wenn ich etwas Verdächtiges höre, das ein Wildschwein sein könnte! Und ich weiß, dass Wildschweine gefährlich sein können! Mutter, ich bin doch schon oft alleine gegangen und wenn ich renne, bin ich schneller in Born als du. Ich kann sehr schnell rennen, ich schlage dich in jedem Wettlauf!“
„Das will ich sehen!“, versetzte ich trocken, dann nickte ich seufzend. „Bestell allen einen Gruß von mir. Und frag Potar, ob er vorhat, morgen oder in den nächsten Tagen auch gleich mit dir angeln zu gehen, um die neuen Köder auszuprobieren. Dann werde ich die Fallen alleine kontrollieren und du könntest eine Nacht in Born verbringen. Ich möchte nur vorher Bescheid wissen.“
„Wirklich? Das wäre toll!“, hopste er begeistert zwei-, dreimal, bevor er den Kopf leicht zur Seite neigte. „Du gehst alleine?“
Diesmal konnte ich mein Grinsen nicht verbergen.
„Ja. Und ich werde keine unnötigen Umwege machen, nirgends herumklettern, nichts essen, was ich nicht ganz genau kenne und ganz sicher keine Wildschweine jagen! Zufrieden?“
„Ja. Kann ich jetzt gehen?“
„Nimm deine Jacke mit.“
„Mach ich! Bis heute Abend!“, wandte er sich schon ab, zog im Vorbeilaufen die lederne Jacke vom Haken neben der Tür und rannte hinaus – ohne sie überzuziehen oder sich die Mühe zu machen, die Tür richtig hinter sich zuzuziehen.
Ich trat ebenfalls nach draußen und bis an die Ecke des Hauses, um ihm hinterherzusehen, bis er meinen Blicken entschwand. Noch vor dem Winter würde er neue Kleider benötigen, denn er hatte schon wieder einen Schuss getan. Und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob es wirklich nur die allen Kindern eigene unermüdliche Energie war, die ihn so … unermüdlich machte!C
Camryn

„Cam? Ist alles in Ordnung?“
Ich drehte den Kopf und sah zu, wie er aus dem See stieg, mit beiden Händen die tropfnassen Haare aus der Stirn schob und dann mit einem snften Leuchten dafür sorgte, dass das Wasser des Sees auf seiner Haut verdunstete.
Noch immer reagierte ich außer mit Herzklopfen auch mit einiger Atemlosigkeit, wenn er so wie jetzt hier draußen völlig gelassen unbekleidet in den See sprang – oder wieder herauskam. Er hatte mich anfangs dafür verspottet, aber sehr schnell damit aufgehört als ihm klar wurde, dass ich tatsächlich nicht ohne Weiteres und ganz sicher nicht so bald dieses Schamgefühl würde ablegen können. Jedes Mal musste ich mir energisch bewusst machen, dass wir hier draußen tatsächlich absolut und vollkommen und in meilenweitem Umkreis alleine und unbeobachtet waren. Und alleine. Unbeobachtet! Das vor allem!
„Cam?“, hakte er nach und zog seine Hosen über.
„Hm? Oh, ja, alles in Ordnung. Ich musste nur vorhin wieder an die Leute in diesem kleinen Dorf denken. Du weißt schon: die streitenden Kinder, das brennende Stroh … Was meinst du, sind solche Streitigkeiten noch immer an der Tagesordnung?“
Er war neben mich getreten und ließ sich, noch immer mit nacktem Oberkörper, neben mir auf der Decke nieder, die mir vor wenigen Wochen eine Frau geschenkt hatte. Dafür, dass ich ihre Tochter von einem schon so lange andauernden Husten befreit hatte. Sie ließ sich nicht davon abbringen und irgendwie gefiel es mir, unser ‚Nest‘ damit auszustatten. Jared hatte bei dieser Bemerkung geschmunzelt, dann aber gefragt, ob ich etwas vermisse. Ich hatte ihn beruhigen können – und ihm das Gegenteil bewiesen.
Der Gedanke daran huschte davon und ich drehte den Kopf erneut und seufzte glücklich, als er mir einen leichten Kuss gab. Die Wärme der Sonne, die noch mehr als ausreichend war, um diesen Herbst zu einem der schönsten der letzten Jahre zu machen, war nichts gegen die Wärme, die Jared neben mir ausstrahlte. Phandra gab uns alles, was wir brauchten.
„Ich denke schon. Nicht unbedingt an der Tagesordnung, aber es wird noch sehr, sehr lange dauern, bis das alte Misstrauen verschwunden ist. Es ist gut, dass der Vater eingeschritten ist und die Jungen vor den Dorfbewohnern gemaßregelt hat.“
Ich nickte und seufzte erneut, diesmal jedoch besorgt, dann rief ich mir diesen Streit ins Gedächtnis zurück. Vier sich prügelnde Jungen im Alter von kaum zehn Jahren hätten um ein Haar eine Scheune in Brand gesetzt. Einer davon, besser gesagt: eines von mehreren Kindern einer kleinen Gruppe Teilbegabter; Überlebende, die sich etwa einen halben Tag entfernt von diesem Dorf niedergelassen hatten und anlässlich des Markttages gekommen waren, um Waren zu verkaufen oder gegen Vorräte für den Winter zu tauschen.
Die Jungs hatten die Gelegenheit genutzt und sich umgesehen – und waren in Streit geraten mit zwei Jungen aus dem Dorf. Soweit ich mitbekommen hatte, war es um eine Kleinigkeit gegangen: Einer hatte ein Spielzeug näher betrachten wollen und das war ihm verweigert worden. Wir waren auf die Prügelei aufmerksam geworden, weil so etwas nun mal selten ohne Lärm vonstattenging, und kamen gerade dazu, als der Drachenjunge ausholte, um dem Jungen, der rittlings über ihm saß, eine Ohrfeige zu verpassen. In ausgerechnet diesem Moment bildete sich eine kleine Flamme auf seiner Handfläche, löste sich und ließ einen Strohballen gleich daneben sofort Feuer fangen. Direkt an einer Scheune voller Heu. Ein Windstoß hatte genügt, um gleich drei weitere, an der Außenwand aufgestapelte Ballen ebenfalls Feuer fangen zu lassen …
Jared hatte schon den Arm gehoben, um das Feuer zu ersticken, doch da war ein Mann neben uns getreten, der ihm zuvorkam. Ebenfalls mit einer einzigen Bewegung des Arms hatte er die Flammen erstickt, sodass nur noch die schwarzverkohlten Halme außen und dünne Rauchfäden davon zeugten, dass hier beinahe ein Unglück geschehen wäre ...

 

Ende der Leseprobe

 

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