Aroda im Mittelalter.

Die Völker, deren Vorfahren einst hierher flüchteten,
sehen einem langsamen, unausweichlichen Aussterben entgegen:

Auf ganz Aroda werden kaum mehr Kinder geboren.
Die Ursache? Unbekannt.

 

Die Chumta – Bewahrer der Völker und gewählte Vertretung – steht vor der
schier unlösbaren Aufgabe, ihrer aller Fortbestand zu sichern. Doch sind sie gewillt,
Menschen von der Erde den Weg nach Aroda zu öffnen? Obwohl sie alle dort ihre Wurzeln hatten, finden sich nur wenige Befürworter, darunter Nos-Por, der größte Magier Arodas, Krigmar von Dunkelwald – und Nisur.
Die Chumta ist gespalten.

 

Nisurs Leben, von einem nicht lange zurückliegenden einschneidenden Ereignis geprägt, wird nicht eben leichter durch ihre Rolle als jüngste und einzige weibliche Chumta. Die Probleme und Stolpersteine mehren sich noch, als Nos-Por von seiner „Reise“ zur Erde zurückkehrt – mit einem Menschenmann: Martius, der Buhlerei mit einer Hexe verdächtig, ist auch auf Aroda nicht willkommen.

 

***

 

ISBN 978-3-7534-7286-7

644 Seiten, Taschenbuch;

Format: 12 x 19cm

Auch als E-Book erhältlich

LESEPROBE:

 

Kapitel 1

 

„Wenn ihr Aroda und unser Volk bewahren wollt, gibt es keinen anderen Weg.“
„Wenn ihr Aroda und unser Volk vernichten wollt, wählt ihr diesen Weg! Ich sage euch, dass es in unserer Schwesternwelt nichts gibt, das erstrebenswert oder auch nur annähernd wert wäre, es in unsere Welt zu übernehmen!“
Simbmurs Stimme überschlug sich beinahe und nicht nur mir, sondern auch den anderen Mitgliedern der Chumta schien es langsam zu missfallen, dass er offenbar nicht mehr in der Lage war, eine ruhige und vor allem sachlich-unvoreingenommene Diskussion zu führen. Er saß mir schräg gegenüber und schon seit geraumer Zeit verschränkte er abwechselnd die Arme wütend und ablehnend vor der Brust, dann wieder legte er die geballten Fäuste auf der dunklen Tischplatte ab. Zeichen dafür, dass er sich nur mühsam beherrschen konnte.
„Unsere Schwesternwelt ist mehr als nur unsere Schwesternwelt, das weißt du genauso gut wie wir alle, Simbmur. Sie ist unser eigentlicher Ursprung und unsere Vorfahren waren es, die sich aus ihr zurückzogen, um unsere Magie zu bewahren! Doch was haben wir erreicht? Wir stehen …“
„Wir haben sie bewahrt, Krigmar, das haben wir erreicht!“, schnappte Simbmur sofort zurück.
„Und zu welchem Preis? Wir sterben aus! Bald gibt es kein Volk von Aroda mehr, das es zu bewahren gilt, bald gibt es keine Magie mehr, die vor irgendwem verborgen und behütet werden müsste!“
Simbmur hielt es nicht länger in seiner sitzenden Position. Er sprang zähneknirschend auf und begann wutentbrannt damit, den langgestreckten Tisch mit weit ausgreifenden Schritten zu umrunden. Eine Hand hielt er hinter dem Rücken zur Faust geballt, die andere krallte er vor der Brust in den langgezogenen Kragen seiner hüftlangen, im Rücken mehrfach gefältelten Jacke. Nur sein Tonfall ließ ahnen, dass er überhaupt noch um Zurückhaltung rang.
„Noch wissen wir nicht, woran es liegt, dass unsere Geburtenziffern so drastisch sinken. Unsere Heiler und größten Magier arbeiten fieberhaft …“
„Sie suchen schon seit Jahrzehnten nach Antworten, aber das genügt nicht mehr. Siehst du das nicht? Uns läuft die Zeit davon! Und es ist nicht mehr länger richtig, von sinkenden Geburtenziffern zu reden, das weißt du ebenfalls! Im letzten Jahr ist ein einziges Kind geboren worden, Simbmur! Eines, ein Junge noch dazu! Und wie es aussieht, war es auch in diesem Jahr, das sich mit den bevorstehenden Eisigstürmen schon wieder dem Ende zuneigt, wieder nur ein einziges Kind, auch wenn es diesmal ein Mädchen zu werden scheint. Das nennst du Fortbestand? Ich nenne es ein langsames Sterben. Wenn wir unsere Augen noch länger davor verschließen, dann werden wir schon sehr bald den Punkt erreicht haben, an dem es uns nicht mehr möglich sein wird, unseren Fortbestand überhaupt noch zu sichern, selbst mit den Menschen unserer Schwesternwelt!“
„Das ist noch immer nicht sicher, Krigmar! Und ich denke, dass ich mit dieser Meinung nicht alleine stehe. Noch haben wir Zeit, herauszufinden, weshalb unsere Frauen keine Kinder mehr gebären …“
Krigmar erhob sich ebenfalls, stützte seine Hände auf die Tischplatte, neigte seinen Kopf in einer fast schon verzweifelt wirkenden Geste und holte tief Luft, dann sah er wieder auf.
„Wir spielen mit unserem eigenen Überleben!“, mahnte er betont und nachdrücklich. „Wir spielen mit dem Fortbestehen unseres Volkes, das seine Hoffnungen in uns setzt! Willst du wirklich so weit gehen und behaupten, dass wir mit absoluter Sicherheit einen Ausweg finden werden, ohne Menschen von außerhalb Arodas herzuholen?“
Simbmur unterbrach seine aufgebrachte Wanderung und ruckte zu ihm herum. Seine Hände lagen jetzt beide hinter seinem Rücken und ich wäre jede Wette eingegangen, dass sie nun beide zu Fäusten geballt waren. Und nun sah er so aus, als ob er diese Krigmar nur zu gerne ins Gesicht schlagen würde. Jetzt holte er Atem zu einer Erwiderung, aber diesmal kam ich ihm zuvor – Zeit, ein paar neue Argumente auf den Tisch zu bringen.
„Nein. Nein, das wird er nicht“, hob ich die Hand und stand nun ebenfalls auf. „Nicht wenn er gehört hat, was ich euch mitzuteilen habe. Das hoffe ich zumindest.“
Es war selten, dass ich, einzige Frau unter neun Männern, mich zu Wort meldete. Alle Blicke richteten sich sofort auf mich.
Seufzend schob ich meine langen, roten Locken über die Schultern nach hinten und warf dann einem nach dem anderen einen langen Blick zu. Zögernd und meine Unsicherheit hoffentlich hinreichend überspielend. Keinem von ihnen würde gefallen, was ich zu sagen hatte, aber Krigmar schien neben Samson der Einzige zu sein, der zu einem Extrem bereit war, und die Unentschlossenen mussten überzeugt werden.
„Sprich, Nisur“, forderte Samson mich jetzt mit ruhiger Stimme auf. „Unser Treffen gerät langsam aus der Bahn, wie mir scheint, und ich bin der Ansicht, dass wir gerade jetzt auf die Stimme einer Frau hören sollten.“
„Niemand hier ist blind und dumm, Samson, und sie wird nichts beitragen können, was wir nicht alle bereits …“, begann Simbmur sofort, aber jetzt unterbrach der weißhaarige Mann mit der einfachen braunen Kleidung, deren Oberteil einer schmalen Kutte nicht unähnlich war, mit einer abrupten Handbewegung seinen Einwurf.
„Es ist genug, Simbmur. Wir alle haben deine Argumente zur Kenntnis genommen und kennen deine Einstellung hinlänglich. Jetzt ist es an der Zeit, die Stimmen der Frauen zu hören. Ich mag alt sein, aber noch nicht zu alt, mich nicht dunkel erinnern zu können, dass auch sie zur Fortpflanzung nötig sind“, versetzte er launig, aber seine strahlend azurblauen Augen funkelten intensiv. Dies und sein Tonfall ließen die Mahnung hinter diesen Worten durchaus durchblicken und durchklingen. „Ich habe Nisur vor rund vier Wochen gebeten, die größten Orte Arodas persönlich aufzusuchen und die Meinungen, Ängste und Sorgen ebendieser Frauen von Aroda anzuhören und zu sammeln.“
Simbmurs Kopf ruckte zu mir herum, aber diesmal hielt ich seinem Blick gelassen stand.
„Wir hören, Nisur. Was denken die Frauen Arodas?“, fuhr Samson fort.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Vorsitzende mir auffordernd zunickte. Ich wandte meinen Blick jedoch erst von Simbmur ab, nachdem ich annehmen konnte, dass er begriffen haben dürfte, dass ich mich von seinem Gebaren nicht einschüchtern ließ. Jeder kannte seine aufbrausende Art zur Genüge und wenn ich gegen ihn bestehen wollte, würde ich Entschlossenheit zeigen müssen.
„Die Angst geht um unter ihnen, Samson“, begann ich leise und ernst. „Ich habe erschüttert vernehmen müssen, wie groß ihre Angst bereits ist! Ich muss dir Abbitte leisten, denn obwohl ich anfangs der Ansicht war, dass meine Reise unnötig sein würde, erwies sie sich als längst überfällig.
Wie Simbmur vorhin schon andeutete, sind euch allen die Berichte aus den Pfortenstädten und -gemeinden unserer Welt bekannt und ich fand alles so vor, wie es darin beschrieben ist. Nirgends Kinder, die jünger als zwei, drei Jahre wären. Die Schulen mit leeren Räumen, die restlichen Kinder zusammengeschlossen in einem Verbund, bestehend aus mehreren Altersklassen. Und die einzige schwangere Frau, von der wir wissen, gestand mir, dass sie sich wie ein obskures Objekt vorkomme inmitten ihrer eigenen Gemeinde: Angestarrt von jedem, immer wieder einmal bemühe sich irgendein Mann darum, dass sie ihren gewählten Partner doch verlassen soll, andere Frauen – nicht nur jüngere – schicken ihr neidvolle Blicke hinterher …“
„Weiter. Was noch?“, hakte Samson bleichgesichtig nach, als ich stockte.
Ich gab mir einen Ruck.
„Es ist Zeit für offene Worte, Samson. Normalerweise würde ich dies hier nicht zur Sprache bringen, aber in keiner Gemeinde und keiner Stadt fand ich noch Frauen, die der Zukunft zuversichtlich entgegensehen. Nicht eine! Die Achtung, die ihnen entgegengebracht werden sollte, zerfällt im Alltag langsam zu Staub. Selbst die Frauen, die in einer gewählten Partnerschaft leben, sehen sich zunehmend den Versuchen anderer Männer ausgeliefert, die sie mehr oder weniger offen … abzuwerben versuchen. Mehr und mehr Männer versuchen verzweifelt, etwas von ihren Familien überleben zu lassen und … gehen zu weit! Nicht mehr lange und der Erste wird sich dazu hinreißen lassen, sich über den erklärten Willen einer Frau hinwegzusetzen.“
Samson verlor jetzt sämtliche Farbe und auch die anderen besaßen den Anstand, zu erbleichen. Vereinzelt hörte ich ein erschrecktes Einatmen oder aufgebrachtes Murmeln, dann erstarb auch das wieder, weil alle gebannt warteten.
„Vereinzelte Stimmen! Wenn du nur in den Pfortenstädten warst, dann handelt es sich hierbei immer noch nur um eine kleine Auswahl“, versuchte Simbmur einen Einwand. Er erntete ein zustimmendes Gemurmel von Pan-To, dem strohblonden Chumta aus Krapp, der erst eine Stunde vor Beginn der Sitzung eingetroffen war und seither schweigend an Simbmurs Lippen hing.
„Keine vereinzelten Stimmen“, konterte ich sofort. „Mein Kommen war allen angekündigt, die Nachricht über meine Reise machte schon vorab buchstäblich die Runde unter ihnen. Überall fand ich Abordnungen und Botschaften selbst aus den kleinen Gemeinden vor, die mir ihre Sorgen vortrugen. Auch in Krapp.“
Simbmur presste schweigend die Lippen aufeinander und Pan-To schob verärgert den Unterkiefer vor. Offenbar fühlte er sich übergangen. Ich wandte mich wieder an die anderen und sah ihnen der Reihe nach in die Augen.
„Wir geben das Leben weiter, aber wir sind keine Gebärmaschinen! Und wir sind außerstande, das Überleben Arodas noch länger zu garantieren! Wir sind frei in der Wahl unserer Partner und selbst wenn wir diese innerhalb eines Menschenlebens wechseln, selbst wenn wir mehrere Partner gleichzeitig akzeptieren würden, würde das nicht genügen. Es liegt weder an uns noch an den Männern Arodas und wenn die Chumta keinen Weg wissen: Wir wissen auch keinen mehr, aber wir werden uns auch nicht mit Respektlosigkeit behandeln lassen! Eher sehen wir dem Sterben unseres Volkes offenen Auges entgegen, bevor unsere Menschenrechte beschnitten werden. Das soll ich euch ausrichten. Und ich versichere mit jedem von euch gewünschten Eid, dass dies der absolut einhellige Tenor eines jeden Ortes ist, den ich in den letzten Wochen aufgesucht habe. Es gab nicht eine Stimme, die anders lautete.“
Es dauerte mehrere Augenblicke, in denen alle sich um Fassung bemühten, dann räusperte sich Samson.
„Was schlagen sie vor?“
„Die Frauen schlagen vor, alle noch existenten Optionen zu versuchen, ohne auch nur noch einen einzigen Tag zu zögern. Die Zeit der Worte, des Beratens, Abwägens und Ausprobierens sei verstrichen und selbst das Handeln könne schon jetzt zu spät sein – ein Grund mehr, sich aller zu Gebote stehenden Mittel zugleich zu bedienen. Es sei fatal, kurzsichtig und leichtsinnig, nicht alle denkbaren Möglichkeiten zu nutzen, die Aroda noch habe.
Ihnen allen ist bekannt, dass es Vorschläge gibt, einen Weg für die Menschen unserer Schwesternwelt hierher zu bahnen. Wenn die Ursache für unser Aussterben darin zu suchen sein könnte, dass es unsere räumliche und gesellschaftliche Isolation ist, dann müsse dieser Weg zwischen unseren Welten umgehend geöffnet werden.“
„Offenbar ist ihnen nicht bewusst, dass wir damit diesen … Menschen Tür und Tor öffnen, dass sie unsere Welt überrennen werden, dass sie …“
„Du traust uns reichlich wenig Verstand zu, Simbmur!“, fiel ich ihm ins Wort. „Die Aufforderung, endlich etwas zu tun, bedeutet nicht, dass wir uns blind in etwas stürzen sollen, das ebenso tragische Folgen für Aroda haben könnte wie unser jetziger Weg. Wir müssen im Gegenteil einen Weg finden, Arodas Ideale zu schützen. Wir müssen einen Weg finden, Menschen unserer Gesinnung den Pfad hierher zu eröffnen und ihn Andersdenkenden, Fanatikern und Ignoranten zu versperren. Und vor allem dürfen wir uns nicht überrennen lassen, wie du es ausdrückst! Es sollten vorsichtige Schritte getan werden, aber es müssen Schritte getan werden, umgehend! Wenn wir nicht Männer und Frauen den Weg hierher finden lassen, damit unsere Völker fortbestehen, indem sie sich vermischen …“
Krigmar holte hörbar Atem und ich warf ihm einen kurzen, irritierten Blick zu, aber er schien mit den Gedanken abzuschweifen. Jedenfalls sah er mich an und doch durch mich hindurch.
„Vermischen?“, stieß Simbmur hervor. „Du willst, dass wir uns mit ihnen vermischen? Nos-Por gilt als der größte Magiekundige unserer Welt, das wird niemand hier bestreiten, oder? Er hat seit etlichen Jahren ein Auge auf unsere Schwesternwelt und was er berichtet, klingt nicht danach, dass wir anstreben sollten, uns mit ihnen zu verpaaren! Sie sind im Vergleich zu uns … primitiv, sie sehen in unserer Magie Teufelswerk, sind abergläubisch, sie bringen Frauen keinerlei Achtung entgegen – etwas, das unsere Frauen soeben noch einmal hörbar forderten! – und sie sind …“
„Zu Recht fordern!“, fuhr ich jetzt auf und ballte ebenfalls meine Hände zu Fäusten. „Sobald die erste Frau Arodas keinen freien Willen mehr haben wird, wird keine Frau Arodas mehr bereit sein, ein Kind zu empfangen! Auch das soll ich euch ausrichten, Simbmur! Es ist bereits zu unfasslichen, herabwürdigenden Anträgen gekommen und auch ich musste mich bereits gegen Worte und Taten wehren, die eindeutige Inhalte hatten! Wie weit denkst du, werden wir noch gehen können, hm? Ich sage dir, dass die Grenze nicht nur erreicht ist, sondern dass sie vereinzelt bereits überschritten wurde.“
Samson hatte sich sehr, sehr langsam von seinem Stuhl erhoben und stützte seine Hände auf den Tisch.
„Du musstest dich gegen Worte und Taten wehren, die dir … etwas antrugen?“, flüsterte er fassungslos.
„Mehrfach“, hob ich den Kopf und versuchte verzweifelt, gegen das aufsteigende Rot in meinem Gesicht anzukämpfen – vergebens. Wie immer. Wie die Scham ließ sich auch Wut viel zu oft deutlich in meinem Gesicht ablesen. „Mehrfach, Samson. Mir wurden auf meiner Reise Partnerschaften angetragen von Männern, die mir zum ersten Mal im Leben begegneten. Mir wurden offen und in Anspielungen Teilungen angeboten. Und einer ging sogar so weit, mir sein gesamtes Vermögen dafür anzubieten, wenn ich bereit sei, ihm eine Tochter zu gebären, die Hälfte für einen Sohn. Mein Fazit nach dieser Reise beinhaltet also auch, dass bald keine Frau mehr sicher ist auf Arodas Straßen und Wegen und dass keine Frau und kein Mädchen im gebärfähigen Alter außerhalb ihrer Gemeinde mehr alleine unterwegs sein sollte.“
Simbmur schnaubte abfällig und murmelte etwas von ‚Übertreibung‘ und ‚vorgefertigte Meinung, die Volkes Stimmung drücke‘.
Ich presste meine Lippen zusammen und schob meine Hand hinter den breiten Ledergürtel über meinem Mantelkleid, an dem von innen geschickt eine Scheide angebracht worden war. Betont langsam zog ich das kleine Messer, für das sie eigens angefertigt worden war, heraus und legte es vor mir auf den Tisch.
„Ich gehe ohne dies keinen Schritt mehr vor die Tür, Simbmur! Ich übertreibe nicht und auch wenn meine Meinung nicht kollektiv alle Männer Arodas einschließt, ist meine Stimmung doch auf dem Nullpunkt angelangt!
Es war hier in Dunkelwald, wo ich zum ersten Mal gegen meinen Willen angefasst wurde. Der Reisende ist über alle Berge, er hat nicht damit gerechnet, dass ich wehrhaft sein könnte. Sein Andenken wird verheilen, meines nicht. Nicht das jedenfalls, was ich im Inneren zurückbehalten werde!“, schob ich den langen Ärmel meines knöchellangen Winterkleides zurück, bis die dunkelblauen Male an Handgelenk und Unterarm sichtbar wurden. Den Fleck am rechten Schienbein, der von meiner Hose unter dem Rockteil verdeckt wurde und den ich seinem Fuß verdankte, als er mir ein Bein zu stellen versuchte, würde ich nicht vorführen.
„Arodas Zeit ist abgelaufen, so oder so“, betonte ich. „Wir steuern unserem Aussterben entgegen und wenn ihr nicht wollt, dass die Frauen es noch forcieren, dann solltet ihr überlegen, ob ihr nicht doch sehr, sehr schnell etwas dagegen unternehmen wollt.“
„Ihr stellt der Chumta ein Ultimatum?“, zischte Simbmur.
Ich hob beide Augenbrauen.
„Ja, Simbmur, man könnte es ein Ultimatum nennen. Aber nicht wir stellen es, das gesamte Volk stellt es. Es liegt in unseren Händen, unser Fortbestehen mit allen Mitteln zu sichern, oder?“
„Und wieso wissen wir nichts von alldem? Wieso enthält nicht ein Bericht etwas von dem, was du da andeutest?“ Pan-To. Er klang betont zweifelnd.
„Das fragst du noch? Weil wir in der Minderheit sind! Weil nicht Frauen es sind, die diese Berichte sammeln und weitergeben! Und weil sich mir gegenüber zum ersten Mal seit Langem Frauen in offenen Worten einer Frau öffnen und gleichzeitig davon ausgehen konnten, dass diese Dinge direkt und ohne Umweg vor die Chumta gelangen.
Berichte enthalten Zahlen und Fakten – wie du schon sagtest, ist euch allen durchaus bekannt, dass die Geburten auf Aroda gegen null gehen; meine Botschaft hingegen berichtet über Sorgen, Zukunftsängste und Schicksale, die uns alle angehen. Schicksale, denen ich ins Gesicht blicken durfte, deren Namen ich hörte.“
Betretenes Schweigen. Simbmur warf mir einen Blick aus schmalen Augen zu, aber diesmal schien er es sich zweimal zu überlegen, noch etwas zu erwidern, zumal Samson jetzt entsetzt den Kopf schüttelte.
„So weit hätten wir es nie kommen lassen dürfen! Wir haben versagt, als es um den Schutz derer ging, die unser höchstes Gut sind! Chumta … Die Zeit, in der wir uns so nennen durften, ist vorbei, wir sind längst keine Hoffnungsträger und Bewahrer mehr! Wir haben viel zu zögerlich reagiert, haben ignoriert, was sich offen vor unser aller Augen abspielte …
Nisur, ich finde keine Worte dafür, wie sehr ich bedauere, was dir zugestoßen ist! Das hier ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, um Näheres von dir zu hören, aber ein Wort genügt und dieser Reisende wird auf ganz Aroda verfolgt werden und seiner Strafe nicht entgehen. Nicht nur als Exempel.“
„Mir ist weiter nichts geschehen, Samson, und ich konnte mich erfolgreich verteidigen. Mein Vater hat mir beizeiten beigebracht, wie ich mich wilden, gierigen Beron gegenüber zur Wehr setzen kann – und nichts anderes war dieser Reisende. Belassen wir es dabei. Viel wichtiger ist, dass wir zu einem Konsens finden. Was also wird jetzt weiter geschehen?“
Er nickte und sah besorgt zu, wie ich meinen Ärmel wieder über die Blutergüsse zog und das Messer zurück in den Gürtel steckte.
„Im Namen aller Männer von Dunkelwald möchte ich eine Entschuldigung aussprechen!“, hörte ich da Krigmar leise murmeln. „Ich bin der erste Chumta von Dunkelwald und bitte dich um Verzeihung für das, was dir zugestoßen ist.“
„Du kannst nichts dafür, Krigmar“, entgegnete ich ebenso leise. „Und es war niemand von hier, wie ich schon sagte. Noch immer sind Dunkelwalds Männer ehrenhafte Bürger Arodas, ich kenne sie nicht anders. Aber dieses Verhalten könnte dennoch Schule machen und um sich greifen.“
„War denn niemand da, der dir … beigestanden hätte?“
Ich atmete einmal langsam und tief durch.
„Nein. Ich war alleine und er nutzte das aus. Menschen wie er warten solche Gelegenheiten ab. Und Menschen wie er werden lernen, dass wir nicht wehrlos sind. Die Empfehlung, vorsichtig und nicht mehr ohne wenigstens ein Messer oder einen geeigneten Hütestab alleine außerhalb eines Ortes unterwegs zu sein, habe ich in meiner Eigenschaft als deine und Pan-Tos Stellvertreterin der Gewerke allen Frauen bereits weitergeben lassen. Notgedrungen.“
Er nickte, immer noch betroffen.
„Das war gut und findet meine volle Zustimmung, aber es genügt nicht. Wir werden eine Bürgerwehr aufstellen, die Dunkelwald und Umgebung mit Patrouillengängen sicherer machen wird. Ich werde tun, was in meiner Macht steht, dass so etwas … nie wieder vorkommt!“, deutete er blassgesichtig auf meinen Arm.
Ich wusste nicht wirklich, was ich darauf antworten sollte. Also nickte ich nur leicht und versuchte ein kleines Lächeln, woraufhin er meinen Blick noch für einen Moment festhielt, dann ebenfalls – noch immer ein wenig schuldbewusst – nickte und sich mit einem kaum hörbaren Seufzen an Samson wandte.
„Ich möchte einen Vorschlag unterbreiten.“
Simbmur schnaubte abfällig, ließ sich dann jedoch dazu herab, sich wieder zurück zu seinem Stuhl zu begeben und Platz zu nehmen.
„Einen Augenblick noch, Krigmar, ich würde vorher gerne noch etwas anfügen und um eine erste Entscheidung bitten … Nisur, ich schließe mich Krigmars Entschuldigung an. Ich werde Nachricht weitergeben an alle Pfortenstädte, die von dort in die entlegensten Gemeinden gehen wird. Krigmars Zusicherung, eine Bürgerwehr solle für eure Sicherheit sorgen, wird aufgenommen werden. Keine leeren Worte mehr, eine erste Handlung. Ich nehme an, sie findet jedermanns Beifall“, sah er in die Runde und erntete einhelliges Kopfnicken.
„Gut. Und nun: Wer Simbmurs Ansicht ist, dass wir weiterhin auf die Resultate der Heiler und Magiekundigen warten sollten, hebe jetzt bitte die Hand.“
Nur eine einzige Hand hob sich und schon nach einem Rundblick ließ ein schmallippiger Simbmur sie wieder sinken.
„Wer der Ansicht von Krigmar ist, dass wir handeln sollen und dass wir auf die Menschen unserer Schwesternwelt angewiesen sind, hebe jetzt die Hand.“
„Ihr könnt unmöglich für etwas stimmen, das derart unausgegoren und …“
„Simbmur, das ‚Wie‘ werden wir im Anschluss diskutieren, jetzt geht es um das ‚Ob‘. Wer ist dafür, dass wir Aroda für Menschen der Erde öffnen sollen?“
Neun Hände. Und noch bevor die letzte Hand wieder heruntergenommen wurde, nickte Samson mit einem tiefen Atemzug und wandte sich an Krigmar.
„Wir hören. Wie sieht dein Vorschlag aus?“
Krigmar nickte zu meiner Überraschung in meine Richtung.
„Es ist im Grunde ihr Vorschlag, Ältester, und zielt lediglich auf einen Grundsatz: Öffnen wir den Menschen einen Weg, aber sorgen wir von Anfang an dafür, dass nur solche ihn gehen können, die in Aroda das sehen, was wir darin sehen! Sorgen wir dafür, dass Gleichgesinnte ihn finden und solche, die … bereit sind, unsere Art zu leben und zu denken zu übernehmen. Und die unsere Ehrerbietung Frauen gegenüber teilen!“
Ich unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen und ließ mich in meinem Stuhl zurücksinken. Der Nachmittag würde noch lange werden …

Der Chumta-Raum, im Anbau an Samsons Haus gelegen, leerte sich zügig. Noch während ich meinen dicken Umhang vom Haken nahm, verschwand auch Simbmur durch die Eingangstür, durch die ein Schwall kalter Luft hereinwehte. Die Eisigstürme waren nicht mehr weit und nach der Wärme in Krapp am Meer der Mitte würde ich sicherlich ein oder zwei Tage benötigen, um mich wieder vollends an das Klima in diesem Teil Arodas zu gewöhnen. Pan-To schien es den ganzen Tag über ähnlich zu gehen, er war noch wärmer angezogen hier aufgetaucht.
„Nisur?“, hörte ich Samson irgendwo hinter mir fragen und wandte mich um.
„Ja?“
„Auf ein Wort?“
Ich ließ den Arm mit meinem Umhang sinken und warf erst ihm, dann Krigmar neben ihm einen irritierten Blick zu, bevor ich nickte.
„Gehen wir zu mir nach nebenan und setzen uns zu einem Glas gewärmten Weines ans Feuer.“
Ich runzelte die Stirn, als er die Verbindungstür zu seinem Privathaus öffnete und einladend mit der Hand in die Diele hinter sich deutete.
„Ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber mein Weg nach Hause ist noch weit genug bei diesem Schnee und Wind, Samson. Es ist spät geworden.“
„Wenn es dir gegenüber nicht respektlos klingt, dann möchte ich dich einladen, heute Nacht Quartier unter meinem Dach zu nehmen. Ich habe immer ein Zimmer für Gäste bereit und ich bin alt genug, dass du keine zweideutigen Aufforderungen dahinter sehen musst“, lächelte er vorsichtig.
Ich schnaubte und hängte nach kurzem Zögern den Umhang zurück an den Haken, bevor ich auch die wärmenden Stiefel wieder von den Füßen schob und meine dicken, gefilzten Strickfüßlinge ein weiteres Mal anzog. Ich hasste es nun mal, einen ganzen langen Sitzungstag in dicken Stiefeln dazusitzen.
„Meine Eröffnung von heute Nachmittag sollte nicht andeuten, dass ich ab sofort hinter jeder freundlichen Einladung einen respektlosen Antrag vermute, Samson! Deiner Versicherung hätte es nicht bedurft!“
„Das weiß ich, sie war im Scherz gemeint“, erwiderte er besänftigend, öffnete auch die Tür in seine Wohnung und ließ mich vorangehen. Wohlige Wärme schlug mir entgegen und das Feuer im Kamin prasselte bei unserem Eintreten. Offenbar hatte sein Sohn dafür gesorgt, dass er abends einen warmen Wohnraum vorfinden würde. Und einen Imbiss, der schon in zugedeckten Schalen und abgedeckten Schüsseln wartete – zusammen mit drei Gedecken.
Ich hob beide Augenbrauen und warf ihm einen amüsierten Blick zu.
„Schuldig!“, lächelte er schulterzuckend und deutete, dass wir uns setzen sollten. „Ich hatte gehofft, dass ihr beide meine Einladung annehmen würdet und habe Med-Sim vorhin gebeten, für ein Abendessen zu sorgen, bevor er nach Hause geht. Ich habe euch etwas mitzuteilen, das vorläufig unter uns bleiben soll, aber zuerst sollten wir etwas essen und trinken. Der Tag war lang.“
Mir entging keineswegs der halb forschende, halb besorgte Blick Krigmars, aber als dieser mir schweigend den Stuhl zu Samsons Rechten abrückte, nahm ich ebenso wortlos Platz, noch bevor Samson sich zwischen uns am Kopfende niedergelassen hatte.
Wir wechselten kaum ein Wort, während wir uns an den reich belegten Broten, dem noch warmen Getreidebrei und dem noch heißen Winterbeerentee bedienten. Nur Samson nahm sich etwas von dem gewärmten Gewürzwein, der in einem Metalltopf gleich neben dem Feuer stand, bevor auch er sich anschließend eine Tasse Tee eingoss.
„Ich werde nicht mehr lange meinen Platz als Ältester in der Chumta einnehmen können“, begann er schließlich, nachdem nach mir auch Krigmar sein Besteck fortlegte und sich mit seinem Tuch den Mund abwischte.
„Können!“, echote der und seine dunkelbraunen Augen mit den großen Pupillen weiteten sich erschrocken.
„Wie es aussieht, habe ich noch ein paar Monate, bevor meine Krankheit mich ans Bett fesseln wird. Und da unsere eigenen Regeln und Gesetze es so vorsehen, wird wohl der nächste Älteste dann den Vorsitz übernehmen und einen Nachfolger vorschlagen, der seinen Platz einnimmt.“
Simbmur! Ich schluckte. Simbmur war nach Samson der Älteste und vertrat derzeit als erster Chumta die auf ganz Aroda beheimateten Handelsgilden, die zwar kein eigenes Volk bildeten, aber dennoch ihre drei Sitze hatten. Er würde als seinen Nachfolger vermutlich seinen Stellvertreter, den stillen, schüchternen Xanta wählen, der – genau wie Pan-To mit seinen gerade mal einundzwanzig Jahren – noch immer sehr leicht zu beeinflussbar war; ein Nachfolger für Simbmur nach dessen Geschmack. Das waren schon drei von zehn. Vier, je nachdem, wer dann für Xanta nachrücken würde.
„Seine Stimme zählt nicht mehr als die jedes anderen Mitglieds!“, wandte ich ein und fragte mich gleichzeitig, wen ich damit zu beruhigen versuchte. Dann jedoch beugte ich mich vor. „Gibt es denn keine Hoffnung mehr auf Besserung?“
Samson lächelte sacht und schüttelte den Kopf.
„Nein. Die Heiler haben aus mir herausgeschnitten, was herauszuschneiden war. Mehr geht nicht. Das Wachstum dieser Geschwulste wird noch eine ganze Weile mit Arzneien zu hemmen sein, aber es ist nicht aufzuhalten.
Ich bin dankbar, Nisur, ich hatte ein langes, erfülltes Leben und zwei Partnerinnen, mit denen ich lange Zeit glücklich war. Mein Sohn wird für mich da sein und da ich dank der Heiler und Kräuterkundigen bis zuletzt kaum Schmerzen haben werde, wird am Ende wohl auch mein Tod sanft sein. Simsmar wird dafür sorgen. Aber bis dahin … habe ich noch einiges zu tun“, funkelte er erst mich, dann Krigmar an.
„Hast du deshalb die heutigen Entscheidungen so vorangetrieben?“, wollte ich wissen.
„Nein. Nicht ausschließlich jedenfalls. Selbst ohne deinen besorgniserregenden Bericht hätte ich das getan, weil ich der Ansicht bin, dass wir tatsächlich kurz vor unserem Ende stehen, es zumindest bereits in Sicht ist, wenn wir weitermachen wie bisher. Mir sind längst ähnliche Berichte zu Ohren gekommen, aber sie waren stets vertraulich; ich brauchte für die Chumta eine offizielle Aussage, die möglichst nicht von mir stammen sollte. Nicht nur Simbmur musste hören, was du zu sagen hast. Was die Frauen zu sagen haben. Und jetzt …
Nein, ich möchte bei etwas anderem anfangen. Nisur, ich weiß, dass du das Haus deiner Eltern dort draußen nicht aufgeben möchtest, aber ich möchte dich fragen, ob du nicht in Erwägung ziehen könntest, dir hier innerhalb des Ortes etwas zu suchen.“
„Darüber habe ich bereits nachgedacht“, murmelte ich. „Nicht erst seit … diesem Reisenden. Das Haus ist zu groß geworden für mich, da ich keine Schüler und Schülerinnen mehr habe, die ich unterrichten und beherbergen muss, und ich eigne mich nicht zur Herbergsfrau nahe einer Durchgangsstraße. Im Herbst, nur wenige Wochen also vor Antritt meiner Reise, habe ich Wertan von Krapp entlassen, meinen letzten Schüler; er hat einen wahrhaft meisterhaften Abschluss gemacht und sich in seiner Heimat niedergelassen. Und damit ist ein Teil meines Broterwerbs endgültig weggebrochen, ich bin fortan darauf angewiesen, mein Geld mit meiner Handarbeit zu verdienen.“
Ich ignorierte standhaft das bange Gefühl in meiner Magengegend, das mich immer dann überfiel, wenn ich mir über die Zukunft Gedanken machte. Über meine ganz persönliche Zukunft.
„Was ist mit dem Geld und Gut deiner Eltern?“, wollte Samson besorgt wissen.
„Es ist nicht so sehr die finanzielle Seite, die mir Sorgen bereitet, Ältester. Ich könnte theoretisch noch ein paar Jahre davon leben, wenn auch bescheiden. Es ist vorausschauend in vielen Unternehmen angelegt und ich streiche hier und da ein paar Gewinne über die Handelsgilden ein, in deren Warenkäufe ich hin und wieder investiert habe. Vor allem der Abbau dieses Lumis‘ schien mir vielversprechend, ich habe im Sommer einen Anteil an einer Miene gekauft. Aber wenn die Bevölkerung Arodas weiterhin so abnimmt, könnten auch diese Gewinne nacheinander wegbrechen. Ich möchte von dem leben können, was ich selbst verdiene, verstehst du?“
Meine Sorge darüber, noch immer keinen Partner gefunden und gewählt zu haben, verschwieg ich.
„Das verstehe ich sogar sehr gut!“, murmelte er. „Ich möchte dir ein Angebot machen, das du dir durch den Kopf gehen lassen solltest. Sobald die Eisigstürme vorüber sind und es mit dem neuen Jahr wärmer wird, werde ich dieses Haus hier aufgeben und wieder in den Wald ziehen, zu meinem Sohn. Er lebt wie ich alleine und da ich in absehbarer Zukunft darauf angewiesen sein werde, von ihm versorgt zu werden, ist es sinnvoll, diese Maßnahme beizeiten zu treffen. Dieses Haus hier ist kleiner als deines, aber es böte dir genügend Platz, um deiner Arbeit nachgehen zu können. Mein Arbeitszimmer und das danebenliegende Gastzimmer können zu einem angemessen großen Raum verbunden werden, in dem sicher zumindest ein paar deiner Gerätschaften Platz finden werden und der Dachboden hier und nebenan dürfte für Woll- und Stoffvorräte …“
„Ich werde meine Zeit nicht mehr länger mit Weben verbringen, Samson. Ich habe die letzten Webstühle … Ich habe all diese Dinge an Wertan verkauft, er hat sie bei seinem Weggang mitgenommen. Ich kann längst schon nicht mehr günstig genug Material einkaufen, um wettbewerbsfähig zu sein, dafür ist meine Kapazität ohne jeden Schüler oder Gesellen zu gering. Mein Handwerk konzentriert sich nicht länger hier, es ist dahin zurückgekehrt, von wo es stammte, dorthin, wo neben den meisten Webern jetzt auch wieder die meisten Färber und Gerber leben: in Krapp und Eichwald am Meer der Mitte.“
„Ziehst du einen Umzug dorthin in Betracht?“, wollte Krigmar wissen.
„Nein. Ich bin noch lange nicht bereit, meine Heimat zu verlassen, bin allerdings mit anderen, denen es ähnlich wie mir geht, einig, dass es ohne Zentralisierung unserer Zünfte und Gewerke nicht mehr geht, wenn sie nicht ganz aussterben sollen. Ich schneidere, nähe, stricke, sticke, ändere und repariere also noch, aber alles andere lohnt nicht mehr für mich. Stoffe und Filzwaren werden fortan von den Handelsgilden durch die Pforte geliefert werden müssen. Wertan selbst oder ich in seiner Vertretung werde sie auf dem Markt anbieten. Ich erhalte auch noch Aufträge zur Weiterverarbeitung von ihm und behalte als Zwischenhändlerin meinen Kundenstamm hier in Felden, das hat er mir vertraglich zugesichert. So ist uns beiden gedient. Ich benötige also keine so großen Räumlichkeiten mehr und suche etwas Kleineres als das hier für mich. Danke also für dein Angebot, es ist großzügig, aber es geht über meine Verhältnisse. Nicht nur, was den Mietzins anginge.“
Die noch immer schwarzen Augenbrauen unter Samsons weißen Haaren hatten sich zusehends zusammengezogen, sodass jetzt eine tiefe Furche zwischen ihnen stand. Sein faltiges Gesicht verzog sich kummervoll.
„Felden verliert mit dir eine begabte Lehrerin, Nisur, und Wertan wird wie jeder andere deiner Schüler schon jetzt einen ausgezeichneten Ruf genießen!“
„Ich habe ihm als Abschluss meiner Reise einen Besuch abgestattet; er hat sich schon jetzt in Krapp etabliert“, nickte ich nicht ohne Stolz, „und würde mich jederzeit als Partnerin seines Gewerbes willkommen heißen. Aber wie gesagt: Ich bin noch nicht bereit, Felden und Dunkelwald zu verlassen. Sollten sich also wider Erwarten hier noch einmal Schüler finden, werden sie den Weg zu ihm nehmen müssen. Dank der Pforten kein weiter Weg …“
Ich brach ab, als er sorgenvoll den Kopf schüttelte.
„Dieser Weg könnte sich in nicht allzu ferner Zukunft als überaus weit herausstellen, Nisur“, erwiderte er. „Wir könnten unter Umständen nur zu bald auf die Handelsgilden, auf andere Handelswege und Transportmethoden angewiesen sein. Aroda wird zusammenrücken müssen und ich hoffe, dass dein Verkauf nicht voreilig war.“
„Was meinst du damit?“, mischte sich Krigmar erneut in unser Gespräch und warf mir einen um Verzeihung bittenden Blick zu, bevor er sich verlegen durch seine dichten, braunen Haare fuhr.
„Das ist der zweite Grund, weshalb ich euch gebeten habe, noch zu bleiben. Ich hatte ein langes Gespräch mit Nos-Por. Ich habe ihn erst vorgestern gebeten, mir einen Zwischenbericht zu erstatten …“
„Er ist zu ersten Erkenntnissen gelangt?“, Krigmars Augenbrauen ruckten nach oben.
„Nein. Das Gegenteil ist der Fall. Alles, was er – wie die Heiler im Übrigen auch – zu bieten hat, sind Mutmaßungen. Aber die teile ich, Krigmar!“
Er holte tief Luft und ließ sich schwer gegen die Rückenlehne seines Lehnstuhles fallen, eine Hand auf dem Tisch liegend, eine schwer auf der Armlehne abgestützt, sodass er eine leicht schiefe Haltung einnahm. Und jetzt bereitete mir sein besorgter Gesichtsausdruck Magenschmerzen.
„Wir haben Arodas oberste Regel verletzt. Wir haben außer Acht gelassen, dass das par für uns immer im Vordergrund stehen muss. Aber indem unsere Vorfahren sich mit der Besiedlung Arodas von unserer Schwesternwelt abgesondert und nahezu abgenabelt haben, haben wir eine Verbindung brachliegen lassen … nein, fast schon gekappt, die wir Nos-Pors und meiner Ansicht nach hätten bestehen lassen, zumindest aber regelmäßig hätten nutzen müssen. Auch das ist entweder ein par für sich oder Teil unseres par. Wir sind abhängig voneinander und wähnten uns doch unabhängig – und jetzt bezahlen wir dafür.
In meinen Augen haben wir uns wie unsere Vorfahren verhalten wie eine Elite, haben uns und unsere Lebensweise bis hin ins Kleinste derart verändert, nur um uns zu distanzieren, unsere Andersartigkeit hervorzuheben, haben sie in jeder Hinsicht ausgeschlossen. Und jetzt?“
„Wir haben nie ein elitäres Denken an den Tag gelegt!“, widersprach Krigmar energisch. „Es gab andere, gewichtige Gründe dafür, das ist uns allen schon aus den ältesten Versen und Liedern bekannt. Und laut Nos-Por wurden und werden Kundige der Magie auf der Erde wieder verfolgt, Samson, vor allem seit Beginn dieser ... ich glaube, sie nennen es Christianisierung. Auch mir sind Einzelheiten aus Nos-Pors Berichten im Gedächtnis geblieben.
Mein Vorschlag heute beinhaltet daher durchaus ein nicht vollends kalkulierbares Risiko. Es ist unabdingbar, einen Weg zu finden, nur solche Menschen hierher wechseln zu lassen, die nicht mit Furcht und abergläubischem Hass dem gegenüberstehen, was wir tun, die uns nicht in unserer eigenen Heimat fanatisch verfolgen werden.“
„Ich weiß. Und ich bin dankbar dafür, dass mit euch noch Chumta-Mitglieder unter uns sind, die diese neuen Gegebenheiten mit der nötigen Vorsicht sehen und unsere Pläne dennoch mit dem nötigen Vorschub vorantreiben werden. Aber könnte es nicht doch sein, dass diese völlige Abriegelung das par – unser aller Gleichgewicht – dahingehend beeinträchtigt, dass wir uns selbst von einer Versorgung abgeschnitten haben, von der wir nichts ahnen oder nichts mehr wissen?“, funkelte er uns nacheinander an. „Du erwähntest selbst die ältesten Verse, doch wie wir alle wissen, handelt nur eine Handvoll von dieser Verfolgung.
Doch wie auch immer: Selbst wenn unsere Vermutung nur einen Grund unter vielen darstellt, es könnte ein Grund sein! Und nicht erst nach den heutigen Debatten bin ich der Ansicht, dass auch das eine Option ist, die wir sehen müssen.“
„Nos-Por ist also deiner Meinung, was das angeht?“, hakte ich nach.
„Ja. Seine Bedenken sind sogar noch weit größerer Natur und auch er ist der Ansicht, dass Maßnahmen längst überfällig sind. Wenn die Chumta morgen wieder tagt, werde ich daher vorschlagen, dass wir ihn zu einer ausführlicheren Sondierung der Lage zur Erde schicken sollten. Nicht mehr als das vorerst, aber ein erster Schritt in die richtige Richtung.“
„Ihr habt einen Weg gefunden, jemanden gefahrlos zurück in unsere Ursprungswelt zu schicken?“, hauchte ich.
„Schon vor sehr langer Zeit, auch wenn der Begriff ‚wiedergefunden‘ oder besser  ‚wieder geöffnet‘ passender wäre. Nisur, die Passagen innerhalb Arodas mögen Magie reinsten Ursprungs sein, aber eine solche Passage war es schließlich auch, die uns hierher brachte. Sie existiert nach wie vor, auch wenn sie nicht mehr genutzt wurde, weil unsere Vorfahren es verboten. Zuletzt geriet sie schon fast in Vergessenheit. Was also lag näher, als diesen Weg neu zu öffnen von jemandem und für jemanden wie Nos-Por?
Er nutzt diese Passage im Stillen seit vielen Jahren, nicht nur, um persönlich Umschau für uns zu halten. Er könnte sie für alle neu bahnen. Noch keine dauerhafte Verbindung, aber ein möglicher Weg. Möglichkeiten, die zukunftsweisend sein könnten. Und vor allem zukunftssichernd, findet ihr nicht?“

 

Ende der Leseprobe

 

Band 5, der Abschluss der Aroda-Reihe, führt noch weiter zurück, diesmal bis in eine altertümliche Zeit. Marahn, Inanas Großvater, hat den Weg nach Aroda geöffnet und den Magiebegabten aller Völker der Erde so die Möglichkeit geschaffen, zu überleben und ihr kostbares Wissen und Können zu bewahren. Was er nicht vermochte, ist, den Hass auf die Menschen und die Rachegefühle auszusperren. Ausgerechnet seine Enkelin Inana muss dies schmerzhaft lernen. Arodas Grundsteine bröckeln, kaum dass sie gelegt sind?!

 

Im Buchregal (siehe oben) ist mehr dazu zu finden. Ein spannender Ausflug in eine magische, erneut historische Welt erwartet euch!

ISBN 978-3-7543-4981-6

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